Von Heike Gerling – Dass Freiräume für künstlerisches Schaffen, Kunst- und Kulturräume verloren gehen, weil es immer weniger preisgünstigen Raum zu mieten gibt, ist leider kein neues Phänomen; auch dass günstige Gewerberäume und günstiger Wohnraum immer seltener werden, ist fast schon eine Platitüde – wird damit aber nicht akzeptabler. Was «Aufwertung» und «Gentrifizierung» bedeutet, bekommen Menschen mit wenig Geld als erste zu spüren; inzwischen sind aber auch immer mehr «normalverdienende» Menschen betroffen. Die Situation hat sich mit der sogenannten «Finanzkrise» nochmals verschärft: Seit die Anlagemöglichkeiten an den Finanzmärkten eingeschränkt sind, bevorzugen viele Investoren «Betongold» als sichere Renditeobjekte: Immobilien.
In Zürich, einer der teuersten Städte der Welt, sind die Renditeerwartungen der Anleger entsprechend hoch. Spekulative Bauprojekte, bei denen weniger der ursprüngliche Sinn des Bauens im Vordergrund steht – nämlich menschlichem Handeln einen baulichen Rahmen zu bieten –, sondern wo es primär darum geht, aus der Vermietung von Gebäuden möglichst hohe Profite zu erwirtschaften, hat es zwar immer gegeben – heute prägen sie das Bild der Stadt aber mit einer bestürzend totalen Eindeutigkeit, wie in Zürich-West oder an der Europaallee. Aber auch in den bestehenden Wohn- und Geschäftsquartieren zeigt sich die forcierte, grossmasstäbliche Immobilienspekulation nicht bloss als eine abstrakte ökonomische, sondern auch als eine gestalterische, das Leben und die Atmosphäre der Quartiere stark prägende Kraft. Was das konkret bedeuten kann, zeigt sich in Zürich an verschiedensten Orten im Kleinen wie im Grossen.
Der Zürcher Kreis 4 zum Beispiel positionierte sich in der Stadtöffentlichkeit in den letzten Jahren verstärkt als Quartier der Kreativen; gleichzeitig sahen sich aber so manche dieser Kreativen bereits gezwungen, dem zunehmenden Aufwertungsdruck des Zürcher Immobilienmarktes mit seinen steigenden Mieten auszuweichen; in andere Quartiere oder Gemeinden – oder gleich in andere Länder. Auch kleine Läden, Handwerksbetriebe, kleingewerbliche Betriebe mit geringer ökonomischer Wertschöpfung sind inzwischen nur noch selten zu finden; unkonventionelle, individuelle Läden werden seltener – und «ganz normale» kleine Läden, die Dinge des täglichen Bedarfs oder gar Lebensmittel verkaufen, wirken angesichts der omnipräsenten «Läden für einen gehobenen Lifestyle» fast schon exotisch.
Ein aktuelles Beispiel der Verdrängung kleiner Läden aus dem Kreis 4, die zu dessen speziellem Charakter beitragen, droht Andys Tierhüüsli am Helvetiaplatz zu werden, wo Tierliebhaber des Quartiers alles Mögliche und Unmögliche für ihre tierischen Lebensgefährten kaufen können. Swiss Life — «ein führender europäischer Anbieter von umfassenden Vorsorge-und Finanzlösungen», wie der Konzern sich selbst definiert –, kaufte vor zwei Jahren das Gebäude, in dem der Mieter wenige Jahre zuvor seinen kleinen Laden selbst renoviert und erweitert hatte. Ende 2014 stünde eine Verlängerung des Mietvertrags an; Swiss Life will diese dem Mieter aber nur gewähren, wenn er eine Mietzinserhöhung von 42% akzeptiert. Tierhüüsli-Inhaber Andy Dubacher sieht keine Möglichkeit, seinen Laden unter dieser Voraussetzung weiterführen zu können; Kunden und Sympathisanten des Ladens haben daher für eine Petition zur Erhaltung des Ladens 1085 Unterschriften gesammelt, die sie am 2. Juli den Zuständigen am Hauptsitz der Swiss Life übergeben wollten. Die kleine Delegation wurde trotz vorheriger schriftlicher Anmeldung nicht empfangen, und konnte die gesammelten Unterschriften nur einem Portier überreichen. Im Übrigen liess Swiss Life verlauten: «Wie bei diesen Verträgen üblich, wird bei einer Verlängerung der Mietzins den aktuellen Marktverhältnissen angepasst.» Gemäss Aussage von Dubacher liegt die Miete des Nachbarhauses, das einer alternativen Pensionskasse gehört, allerdings deutlich tiefer als schon der bisherige Mietzins für sein Tierhüüsli. Was also ist bei Swiss Life der Masstab für die Festlegung ihrer Mieten?
Wie im November letzten Jahres bekannt wurde, verlangt Swiss Life vom Warenhaus Manor an der Zürcher Bahnhofstrasse für eine Verlängerung ihres im Januar ausgelaufenen Mietvertrages um 5 Jahre, für die Manor eine Option besitzt, das Dreifache der bisherigen Miete. Manor protestiert gegen diese drastische Mietzinserhöhung, ihr Warenhausbetrieb lasse sich mit einer Miete in der von Swiss Life neuerdings verlangten Höhe nicht mehr rentabel führen; ihr Warenangebot liegt im mittleren Preissegment und ist auf ganz normale Kunden zugeschnitten, so dass sich die Preise der Waren und die zu erwirtschaftenden Erträge nicht beliebig nach oben schrauben lassen. Swiss Life legt der Bemessung seiner Mietzinserhöhung aber nicht die üblichen Mietzinse von Warenhäusern zugrunde, die an vergleichbaren Standorten zwischen 5 und 7 % des Umsatzes liegen sollen, sondern setzt die an der Zürcher Bahnhofstrasse «üblichen» Mietzinse als Masstab für die von ihr angestrebten Renditen. Es gehöre «nicht zur Verantwortung von Swiss Life, ein Unternehmen an einem der besten Standorte der Schweiz mit günstigen Mieten zu subventionieren», heisst es in einer Medienmitteilung des Versicherungskonzerns. Wenn Manor an diesem Standort vertreten sein wolle, müsse es sich «den ökonomischen Realitäten stellen». In diesem Zusammenhang ist es allerdings bemerkenswert, dass Swiss Life heute die drittgrösste Immobilienbesitzerin an der Bahnhofstrasse ist – der Konzern hat damit einen nicht unbedeutenden Einfluss darauf, was für Mietzinse hier «üblich» sind oder in ein paar Jahren üblich sein werden. Ihre Macht im Immobilienmarkt baute Swiss Life im März dieses Jahres zusätzlich aus, indem sie von der Ledermann Immobilien AG für 273 Millionen Franken weitere 28 Immobilien in Zürich kaufte. Swiss Life wird also künftig noch mehr als bisher bestimmen können, was in Zürich «marktüblich» sei und was nicht.
Ob im Kleinen oder im Grossen – ihre drastischen Mieterhöhungen, ob sie Andys Tierhüüsli oder das Warenhaus Manor betreffen, rechtfertigt Swiss Life damit, dass sie als Versicherungs-Unternehmen verpflichtet sei, die Gelder ihrer Versicherten «zu angemessenen Konditionen» anzulegen; im Interesse ihrer Versicherten müsse der Konzern sich bei Vermietungen von Immobilien an «marktüblichen Preisen» orientieren. Aber ist es noch im Interesse der Versicherten, wenn durch die Rendite-Maximierung mächtiger Versicherungen und Pensionskassen die Mieten in der Stadt in die Höhe getrieben werden, bis sie für normale Mieter unbezahlbar sind? Wie verantwortungsvoll ist so ein geschäftliches Vorgehen? Und handelt der Konzern bei der die Rendite maximierenden Vermietung seiner Liegenschaften wirklich nur im Interesse seiner Versicherten? Schliesslich ist Swiss Life seit 1997 keine Genossenschaft mehr, sondern eine börsenkotierte Aktiengesellschaft.
Das aktuelle Rating der Swiss Life-Gruppe durch die Rating-Agentur Standard & Poor’s liegt bei A-/positiv.
«Wem gehört Zürich?» Eigentumsrechtlich verstanden lässt sich diese Frage, die von einem lockeren Bündnis verschiedener Zürcher Gruppen seit dem Sommer 2013 im Rahmen ihrer Demonstrationen und Veranstaltungen immer wieder gestellt wird, ziemlich klar beantworten. Definiert man eine Stadt als Summe ihrer Immobilien, gehört Zürich den Immobilienbesitzern, und damit basta. Nur ist eine Stadt mehr als die Summe ihrer Immobilien. Bezieht man in die Definition einer Stadt die darin lebende Bevölkerung ein, bekommt die unter den real existierenden ökonomischen Verhältnissen provokant weltfremd anmutende Frage dieser Aktivisten eine andere Dimension – in philosophischer, soziologischer und moralischer Hinsicht. Als von der Vertreibung durch Kapitalinteressen Betroffene oder Bedrohte sehen sie die Vielfalt und Durchmischung in der Stadt durch die aktuelle Stadtentwicklung, die eine gesellschaftliche Segregation vorantreibt, als zunehmend gefährdet.
Gerade Vielfalt und Durchmischung sind aber nach Ansicht der renommierten US-amerikanischen Soziologin Saskia Sassen eine elementare Grundvoraussetzung von Urbanität. Im Oktober letzten Jahres hielt Sassen in Zürich auf Einladung der Universtät und der Stadt Zürich einen Vortrag zum Thema «The Global City: Today’s Frontier Zone»*. Seit Jahrzehnten erforscht sie dieses Thema; bereits 1991 erschien ihr Buch «Global Cities», dessen Aktualität bis heute noch zugenommen hat.
Als «Global Cities» beschreibt Sassen die Entscheidungs-und Steuerungszentralen der globalen Ökonomie, wo multinationale und global operierende Konzerne ihre Strategien und Produkte entwickeln und ihre ökonomischen Transaktionen in der realen Welt steuern. Hier finden sie die Spezialisten, die sie dafür brauchen – und hier koppeln sie ihre transnationalen Geschäfte wieder an die Realwirtschaft an; eines der Mittel dazu ist auch die Immobilienwirtschaft. «Grenzzonen» sind diese Städte aber auch insofern, als hier der Graben zu denjenigen Menschen verläuft, die das «normale» Leben aufrechterhalten und dafür so schlecht bezahlt werden, dass sie in den Global Cities kaum noch existieren können.
Sassen beschrieb in ihrem Vortrag am Beispiel von London, wie ganze Stadtteile Londons praktisch ausstarben, indem ihnen die ökonomischen Masstäbe der Finanzindustrie in Form surreal überhöhter Mieten übergestülpt wurden. Den um die weniger zahlungskräftigen Bevölkerungsteile bereinigten, sterilen Geschäftsvierteln der heutigen «Global Cities» fehle die Komplexität – und damit die längerfristig überlebensnotwendige Vitalität und Innovationskraft –, die sich aus der Vielfalt und Durchmischung verschiedenster Bevölkerungsgruppen ergibt und eine Stadt wirklich urban macht.
Indessen scheint es in Zürich auch Angehörige liberaler und bürgerlicher Parteien zu beunruhigen, dass jetzt sogar schon ein an sich rentabel geführtes Warenhaus dem Rendite-Druck der Immobilienwirtschaft nicht mehr standhalten kann. Die IG Manor, eine Interessengemeinschaft von «Zürcherinnen und Zürchern aus Politik und Gewerbe», die Ende April gegründet wurde, tritt mit ihrer Geschäftsführerin und Publizistin Esther Girsberger für die Erhaltung des Warenhauses Manor und der Vielfalt an der Zürcher Bahnhofstrasse und in der Innenstadt ein. Unterstützung erhielt die IG bisher auch von liberaler bis konservativer Seite: FDP-Gemeinderat Severin Pflüger führte in einem Artikel in der NZZ ökonomische Argumente ins Feld gegen eine Gewinnmaximierung, die zur Verödung der Bahnhofstrasse führe; die CVP wandte sich mit einer Interpellation und einem Fragenkatalog betreffend Swiss Life, Manor und der Bahnhofstrasse an den Stadtrat; und Anfang Juli trat die BDP der Vereinigung bei, um sich gegen die «schleichende gewerbliche Verödung» einzusetzen.
Ob die Exzesse der Renditenmaximierung mit vereinten Kräften noch gestoppt werden können, bevor die Stadt sich komplett in ein totes Luxusghetto überteuerter Hochglanzimmobilien verwandelt hat? Auf der Webseite von Swiss Life kommen die Worte «Verantwortung» und «Nachhaltigkeit» bereits vor: allerdings bisher in einem anderen Kontext als dem einer sozialverträglichen Mietzinspolitik.
* Der Vortrag von Saskia Sassen vom Oktober 2013 in Zürich war ein Auszug aus ihrem neuen Buch: «Expulsions – Brutality and Complexity in the Global Economy». Es ist in der Harvard University Press im Mai 2014 erschienen.
Bild: Gottfried-Keller-Denkmal, Zürich © Heike Gerling
Publiziert: ensuite Nr. 140, August 2014