Gasflaschen, Rollstuhl und Nervenkitzel

Das Fotografieren mit Blitz ist nicht emp­fohlen – weil die Bilder ein­fach schlecht wer­den. Wenn jedoch geblitzt wird, nur um die Artis­ten in ihrer Konzen­tra­tion zu stören und die ohne­hin gefährlichen Aktio­nen noch riskan­ter zu machen, dann ist das willkom­men! – Sin­ngemäss führt eine Off-Stimme das nervöse Pub­likum in die Regeln des Abends «Extrêmités» ein. Nervös ist es deshalb, weil die Bühne voller knall oranger Gas­flaschen ste­ht: Gefährlich scheinen nur schon die Req­ui­siten!

Diese erste Anspan­nung bricht während der stündi­gen Auf­führung nie ab, denn die drei Jungs des Cirque Inex­trem­iste scho­nen keine Ner­ven des Pub­likums. Sie sprin­gen, rollen und klet­tern über lange Holzbret­ter, die ohne Sicherung auf übere­inan­dergestell­ten Gas­flaschen liegen, und deren Schw­er­punkt meist irgend­wo in der Luft schwebt. Es entste­hen mobile Kon­struk­tio­nen, die nur durch das Gewicht der drei Män­nerkör­p­er im Gle­ichgewicht bleiben kön­nen. Stets darum bemüht, die physikalis­chen Geset­ze der Schw­erkraft aufs Äusser­ste her­auszu­fordern, bal­ancieren sie in waghal­si­gen Aktio­nen über diese Mobiles, schla­gen Saltos auf den Wip­pen und ver­lagern dabei die schw­eren Gas­flaschen von dieser zur anderen Seite – dabei schleud­ert schon mal eines der orangenen Objek­te ins Pub­likum! Auch wenn diese eine Flasche nur aus Schaum­stoff ist: Der Schock sitzt tief.

Sol­i­dar­ität und Schalk

Wie wenn das alles nicht schon atem­ber­aubend genug wäre, wird dem Pub­likum die tat­säch­liche Gefahr der Artis­tik dauern vor Augen geführt: Rémi Lecocq, ein­er der drei franzö­sis­chen Kün­stler, ist seit einem Sturz vor acht Jahren quer­schnittgelähmt. Der Zirkus blieb aber seine grösste Lei­den­schaft und so entschloss sich Lecocq, auch mit eingeschränk­tem Kön­nen der Artis­tik treu zu bleiben. Durch die dauernde Präsenz seines Roll­stuhls und sein­er bei­den leblosen Beine ist das Risiko auf der Bühne omnipräsent und die Akro­batik wirkt umso ver­rück­ter: Die drei wis­sen, was sie aufs Spiel set­zen.

Vor allem aber wis­sen sie, auf wen sie ver­trauen kön­nen. Denn neben den waghal­si­gen Sprün­gen, dem gekon­nten Aus­tari­eren und den frag­ilen Kon­struk­tio­nen erzählen die drei ohne Worte aber mit viel schwarzem Humor von den Tück­en des Team­works. Die Charak­tere ihres Schaus­piels sind fein geze­ich­net: Der char­mante Schön­ling ist angewiesen auf den schüchter­nen Toll­patsch, der wiederum den schlauen Schein­heili­gen neckt. Die Behin­derung des einen wird dabei scham­los aus­genützt, so dass es beim Zuschauen pein­lich berührt. Den­noch ist der unverkrampfte Umgang sehr erfrischend: Anstatt sich im (Selbst-)Mitleid zu suhlen, nehmen sich die drei Artis­ten alle ernst;  geschont wird nie­mand, fies sind alle drei.

Gle­ichzeit­ig ist das Trio in seinen Bal­anceak­ten aber auf einan­der angewiesen: Ein Niessen des einen kann den Sturz des anderen provozieren; das Stolpern des Drit­ten riskiert den Fall der bei­den anderen. Mit augen­zwinkern­der Moral wird somit ganz neben­bei ein leis­es Gle­ich­nis für das men­schliche Zusam­men­leben im All­ge­meinen geze­ich­net: Ohne Sol­i­dar­ität würde alles zusam­menkrachen. Aber ganz ohne Schalk und Risiko wäre es auch lang­weilig.

Ein let­zter Schock

Es ist eine fes­sel­nde Dar­bi­etung im Stil des Nou­veau Cirque; ganz ohne Kitsch, dafür mit viel burschikosem Charme. Nach all dem Trubel zün­det sich ein­er der drei mit clow­neskem Lächeln genüsslich eine Zigarre an. Die Gas­flaschen sind wieder nicht weit ent­fer­nt und schon bald explodiert die grösste von ihnen mit einem laut­en Knall. Das Schaus­piel endet mit diesem einen let­zten Schock und ganz im Stil des durchge­hen­den Gal­gen­hu­mors liegen die Artis­ten schein­bar tot auf dem Boden.

Es ver­wun­dert deshalb nicht, dass sich die drei Jungs nach dem Applaus mit ein­er Bemerkung an alle anwe­senden Kinder richt­en. Mut­ter­au­gen begin­nen zu glänzen ob dem Ver­ant­wor­tungs­be­wusst­sein dieser wilden Ker­le. Aber dann: „Kinder, wenn Ihr Gas­flaschen zum Spie­len ent­deckt, vergesst nicht: Macht unbe­d­ingt ein Video von Euren ver­rück­testen Ideen und schickt sie uns!“ Die drei bleiben wild und lassen sich nicht stop­pen. Gut so!

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Artikel online veröffentlicht: 2. September 2013 – aktualisiert am 17. März 2019