Weitgehend gleich und doch recht anders

10_Ungeheuerlich Roland Jean­neret (Journal21) über die Urauf­führung an den Thuner Seespie­len -  Dür­ren­matts ver­traute „alte Dame“ begeis­tert das Pub­likum erst­mals als Musi­cal. Bere­its das Plakat ver­rät es: Die berühmten gel­ben Schuhe, welche die Gül­len­er bei zunehmen­dem Wohl­stand sich nach und nach leis­ten, sind hier mit einem roten Exem­plar abge­bildet. Kein Verse­hen des Grafik­ers son­dern ein bewusstes Sig­nal, wie man uns bestätigt: Die welt­bekan­nte Dür­ren­matt-Tragikomödie kommt anders daher als gewohnt. Sowohl Claire Zachanass­ian wie auch Alfred Ill sind deut­lich jünger, die Mil­liardärin reist – geografisch bed­ingt – nicht mit dem Zug, son­dern mit dem Schiff an, Gegen­wartsszenen wer­den par­al­lel durch Rück­blenden unter­malt, wenn die Ver­gan­gen­heit die bei­den Haupt­fig­uren ein­holt. Die Eunuchen Roby, Toby und Loby wer­den durch Body­guards erset­zt sowie die mehreren Ehe­gat­ten der Zachanass­ian ganz gestrichen. Und was die Schuh­far­ben bet­rifft: In Güllen trägt man dies­mal oliv­grüne Stiefel um im sump­fi­gen Wass­er wat­en zu kön­nen….

Ein wesentliche ander­er Akzent wird in der Rolle der „alten Dame“ geset­zt: Kläri Wäsch­er, alias Claire Zachanass­ian kommt nicht nur als Rächerin nach Güllen zurück – von der früheren, aber tragis­chen Liebe­saf­färe mit Alfred scheinen bei bei­den Gefüh­le geblieben zu sein, Liebe und Hoff­nung – diese durch ein junges Mäd­chen dargestellt – ver­lei­hen der Geschichte einen ver­söhn­licheren Schluss als im Orig­i­nal. Doch Ill ent­ge­ht dem Tod auch so nicht, ganz im Dürrenmatt’schen Sinn: „Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimm­st­mögliche Wen­dung genom­men hat.“ Und nach der Über­gabe des Mil­liar­denchecks richtet Claire auch die Wankelmüti­gen von Güllen und ruft ihnen „Mörder, ihr seid alle Mörder“ nach.

Dür­ren­matt in die Augen schauen kön­nen
Der grösste Unter­schied ergibt sich zwangsläu­fig aus der Tat­sache, dass das The­ater­stück in die Form eines Musi­cals angenom­men hat. Wie kommt man vom Wort zum Ton, von Sätzen zu Melo­di­en? Der Bern­er Moritz Schnei­der hat zusam­men mit dem englis­chen Musi­cal­star Michael Reed die Musik kom­poniert, Wolf­gang Hofer die Lied­texte ver­fasst. „Die grosse Her­aus­forderung bestand darin, zwei Gen­res zusam­men­zuführen – den Text des Weltk­las­sik­ers von Dür­ren­matt und die Geset­ze eines Musi­cals, “ erk­lärt Schnei­der gegenüber jourrnal21. Die Geschichte musste ges­trafft und teil­weise zuge­spitzt wer­den. Gesang hat zudem die Eigen­schaft, eher eine Stim­mung oder ein Gefühl zu ver­mit­teln und nur bed­ingt eine Hand­lung voranzutreiben“, präzisiert das Pro­grammheft. „Diesen anspruchsvollen Spa­gat schafften wir nur dank unseres grossar­ti­gen Teams. Wir mussten uns zuerst über die Grund­tonal­ität und den Stil eini­gen und dabei ver­mehrt Emo­tio­nen in die Hand­lung brin­gen. Im Buch ist die Zachanass­ian wenig präsent und eiskalt. Das mussten wir anpassen“, so Kom­pon­ist Schnei­der, der bere­its beim Musi­cal „Dälle­bach“ Erfahrun­gen sam­meln kon­nte. „Das Kom­ponieren eines solchen Werks entste­ht nicht am Reiss­brett wie bei einem Zeich­n­er. Manch­mal wache ich mit­ten in der Nacht auf und summe eine Melodie ins Dik­ta­fon.“ Über allem ste­ht aber für ihn „dass wir Dür­ren­matt in die Augen schauen kön­nten, wenn er noch leben würde.“

„Irgen­det­was machen wir Men­schen falsch“
Das Pre­mieren­pub­likum an dieser elften Pro­duk­tion der Seespiele Thun war begeis­tert und lohnte es mit minuten­langem Applaus und ein­er Stand­ing Ova­tion, was vor allem den gesan­glichen und der chore­ografis­chen Leis­tun­gen des ganzen Teams galt. Mit Pia Douwes (Zachanass­ian) und Uwe Kröger (Alfred Ill) ste­ht zudem eine Star-Beset­zung von inter­na­tionalem Renom­mee auf der See­bühne: Die bei­den treten seit über 20 Jahren immer wieder gemein­sam in Musi­cals auf. Sie haben eine Erfahrung, die man ihnen vom ersten bis zum let­zten Ton anhört. Der Deutsche Sänger Uwe Kröger lebt heute in Wien und hat densel­ben Jahrgang (1964) wie die Nieder­län­derin Pia Douwes, die ihre musikalis­che Aus­bil­dung in Lon­don und eben­falls in Wien erwor­ben hat; bei­de wur­den schon mehrfach aus­geze­ich­net.

Was hat Uwe Kröger bewogen, die Rolle des Alfred in Thun anzunehmen? „Es sind die offe­nen men­schlichen Grund­fra­gen im Dür­ren­matt-Stück, die mich beschäfti­gen: Wann sind wir couragiert, speziell wenn wir die Wahl haben? Inwiefern heiligt der Zweck die Mit­tel? Wie käu­flich sind wir Men­schen? Wenn wir wirk­lich lern­fähig wären, gäbe es wohl keine Kriege mehr auf Erden – also irgen­det­was machen wir falsch — und da brauchen wir immer wieder diese Erin­nerung, diese Ermah­nung. Vielle­icht ist das hier ein möglich­er Weg, auch ein jün­geres Pub­likum zu erre­ichen und für diese The­matik zu sen­si­bil­isieren.“ Die The­men Rache und Sühne hät­ten ja ger­ade nach dem Nation­al­sozial­is­mus und dem 2. Weltkrieg eine enorme Rolle gespielt, was Dür­ren­matt mehrmals ver­an­lasst hat, am Stück Änderun­gen vorzunehmen.

Kröger: „Obwohl Ill offen­sichtlich in sein­er Jugendzeit die falsche Wahl getrof­fen hat, geht er geläutert aus dieser Geschichte. Ill hat die Angst besiegt und ist eigentlich der Einzige im Stück, der eine Entwick­lung durchgemacht hat. Über­all, wo abgrundtiefer Hass vorhan­den ist, muss auch noch Liebe vorhan­den sein – das ist mein Glaube daran. Das fasziniert mich an dieser Rolle.“

Hoff­nung trotz Schein­heiligkeit
Gewöh­nungs­bedürftig an der Insze­nierung ist hinge­gen das Büh­nen­bild, das sich erst im Laufe des Spiels erk­lärt. Der Wirrwarr an Stan­gen und Röhren ent­pup­pt sich als Struk­turen der am Boden liegen­den Kle­in­stadt Güllen, die sich während des Hand­lungsver­laufs langsam wieder auf­baut und aufrichtet, wobei die Fas­saden­struk­turen durch wech­sel­nde Leucht­stof­fröhren weit­ere Botschaften (wie die Kruz­i­fixe der ver­lo­ge­nen Geistlichkeit) offen­baren.

Dass sich die Hand­lung beina­he auch anders hätte entwick­eln kön­nen, doku­men­tieren nicht nur das Lied „Liebe endet nie“, son­dern auch die bei­den grossen Wür­fel, die im Zen­trum der Bühne liegen.

„Der Besuch der Alten Dame – das Musi­cal“
www.thunerseespiele.ch
(noch bis zum 5. Sep­tem­ber)

Ab 19. Feb­ru­ar im The­ater Ronach­er, Wien

Dieser Text wurde mit Genehmi­gung vom Autor dem ensuite.ch zur Ver­fü­gung gestellt. Der Orig­inal­text erscheint auf Journal21. Bilder zVg.

Artikel online veröffentlicht: 18. Juli 2013 – aktualisiert am 17. März 2019