Von Dr. Regula Staempfli - Pornografen, unzählige Filmemacher, Literaturkenner, Psychoanalytiker und Möchte-Gern-Connaisseure sind über den schönen Mann, feinsinnigen Literaten, komplexcharaktrigen* Arthur Schnitzler hergefallen. Der Name Schnitzler eröffnet offensichtlich immer denselben Reigen: Jeder 60jährige Alt-68er langweilt den Tisch mit fürchterlich mickrigen erotischen Passagen, gewürzt mit klassischer marxistischer Kritik am viel zu “bürgerlichen” Schnitzler.
Deshalb liess ich die Biographie “Arthur Schnitzler. Anatom des Fin de Siècle” auch mehrere Wochen rumliegen bis ich sie in einem Zug, in einer Nacht in Wien, ohne Ablenkung und ohne Unterbruch und äusserst fasziniert las. Das Buch ist grosse Klasse, unbedingt lesenswert. Soviel mal grad vorweg.
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Max Haberich erzählt nicht nur über Autor und Werk, sondern bringt uns ein Wien nahe, das in vielem dem heutigen Europa gleicht: Sowohl im Positiven als auch im Negativen. Haberich führt an, wie Schnitzler in seiner Heimatstadt Wien bis heute nicht in den offizellen Stadtführern aufgeführt ist, was alles über die miefige Austriapolitik der Zeitgeschichte aussagt. Es gibt kein rot()z‑weiss-rotes Fähnchen, diese Plaketten, die die Stadt Wien für die Touristen hat anfertigen lassen, um auf besondere Sehenswürdigkeiten und Prominente hinzuweisen. Dabei ist Schnitzler “Wien incarnated”, ein Bourgeois, der sich in Milieus sprichwörtlich überall zu Bette legt. Schnitzler ist ein Frauenliebhaber, etwas, das den meisten Menschen heutzutage nicht mehr geläufig ist, seit die Scham, die Menstruation und Menopause klinisch analysiert, veröffentlicht, diskutiert und seziert werden. Seit das Geheimnis “Weib” als sexistisch, gender-diffam und grundsätzlich als Übel der Welt stigmatisiert wird. Die Frauen kommen bei Haberich gut weg, viel besser als sie von Schnitzler manchmal behandelt wurden.
Arthur Schnitzler erscheint in Haberichs Biografie in einem völlig neuen Licht: als sozialkritischer Autor, der viel zur Stellung der Frau zu sagen hatte, als Künstler, dessen jüdische Herkunft zu messerscharfen Beobachtungen des Antisemitismus anregte. Ganz besonders stark ist adas Buch die jüdisch-deutsch-österreichische Idenität betreffend. Die Ausrottung des europäischen Judentums, dessen sterile und furchtbare Konsequenzen wir alle in Europa seit Jahren wieder stärker spüren, insbesondere die absolute Humorlosigkeit deutscher Europadominanz in Form des Golem Schäubles, wird durch die Lektüre bei Max Haberich wieder und wieder bewusst. Ohne Juden gibt es eben kein friedliches, kulturvolles und menschliches Europa — wie wahr, wie wahr. Es gibt kein Europa mit Vielfalt, Mehrsprachigkeit, Kunst und starken Frauen.
Doch dies wollen die meisten Menschen bis heute nicht begreifen.
Max Haberich erzählt im “Anatom des Fin de Siecle” nicht nur zauberhaft, spannend, erkenntnisreich und historisch ungemein anregend über Arthur Schnitzler, sondern erhellt auch unsere Gegenwart. Er erklärt, ohne auch nur mit einem Wort die Zeitgeschichte erwähnen zu müssen, den Hass der muslimischen Einwanderungskulturen auf Menschen jüdischen Glaubens, respektive auf Menschen, die der Aufklärung verpflichtet sind.
Schnitzler in Haberichs Erzählung – an der Grenze des Wunderbaren. Es gibt zwar lange Strecken der Quellenzitate, die etwas ermüden. Doch die Fähigkeit, an allen Tischen und Betten Schnitzlers gleichzeitig zu sitzen, ist lebendige Sinnlichkeit der Poesie. “Das Leben ist schön und interessant – ich möchte es um der schönen Stunde willen gleich noch einmal leben” schrieb Arthur Schnitzler am 20. Oktober in sein Tagebuch. Am nächsten Tag stirbt er – den Kopf in Claras Händen.
(Worterfindung von laStaempfli – sie erlaubt sich dies ab und an.)
Max Haberich. Arthur Schnitzler. Anatom des Fin de Siècle. Kremayr&Scheria GmbH&Co. KG, Wien 2017, 320 Seiten