Von Karl Schüpbach — Ingo Becker, mit dem Eintritt in das Bieler Symphonieorchester hast du deine Laufbahn als Fagottist begonnen. Das war im Jahre 1971. Ende 2009 verlässt du als alternierender Solo-Fagottist das Berner Symphonieorchester (BSO). Das Erreichen des Pensionsalters erlaubt dir einen Rückblick auf eine beträchtliche Zeitspanne. Welche Veränderungen des Phänomens Symphonieorchester ortest du von 1971 bis 2009?
Ingo Becker: Möglicherweise erleben wir einen Bedeutungsverlust der klassischen Musik, der Rechtfertigungsdruck fürs BSO war jedenfalls noch nie so gross wie jetzt, und die Gewissheiten von damals schwinden (was ja auch schon unseren Vorgängern auffiel).
Auch bei meinem Start in Bern war das Orchester keine Insel der Seligen, aber alles war schön übersichtlich. Heute ist der Musikkonsum deutlich anders, wir können auf «YouTube» sehen, wie unterschiedlich weltweit Musik gemacht wird, und wir stehen vor der Frage, mit welchen Attraktionen man den Zuhörer aufhorchen lassen kann.
Deine Ehefrau Elisabeth Becker-Grimm führt ihre anspruchsvolle Arbeit als Mitglied des Registers der 1. Violinen im BSO weiter. Du bist ein Experte für die Anforderungen, die an einen Solisten eines Symphonieorchesters gestellt werden. Jedes Orchestermitglied kennt den Dualismus Solo-Tutti. Wie definierst du ihn gegenüber einem breiteren Publikum?
Unsere interne Hierarchie ist dem Publikum ziemlich egal. Wichtig war mir immer die Anerkennung für die Kollegen im Tutti, die im Gegensatz zu uns Bläsern alles gemeinsam spielen müssen, sie müssen eine unglaubliche Anpassungsleistung an ihre Gruppe zeigen. Dafür ernten sie aber immer wieder Missachtung durch die Dirigenten, die hinteren Pulte werden ja kaum wahrgenommen. Als Solobläser ist man privilegiert, man darf Impulse setzen und sich wichtig fühlen, und nach einer exponierten Stelle gibt es ein freundliches «Bravo!» der Kollegen und einen dankbaren Blick meiner Frau. Anders an schlechten Tagen: Da bläst man so schön ins Instrument und es kommt so scheusslich raus!
In deinem Register arbeitet Monika Schneider als gleichberechtigte Partnerin. Wenn man euch auf dem Konzertpodium zuhört – aber auch zusieht – fällt eine grosse Übereinstimmung auf, wie zuletzt während des Konzertes für Orchester von Bela Bartok. Welches sind die Bedingungen für eine solche Harmonie zwischen zwei Musikern in einer Position, die bestimmt auch ihre Probleme beinhaltet?
Diese als verschworen erlebten Orchestermomente, wenn es zwischen zwei Kollegen kammermusikalisch knistert, sind unbeschreiblich! Das Sich-Zuspielen, der musikalisch inspirierte Dialog, der ja in die Partituren hineinkomponiert wurde – das schafft Euphorie und Dankbarkeit, umso mehr, wenn die Kollegin etwas vom Tuten und Blasen versteht. Zuhören können, aufeinander eingehen, sich anpassen: Wir Orchestermusiker müssten doch eigentlich die perfekten Lebens-Partner sein!
Das BSO ist ein Konzertorchester, das einen Teil seiner Arbeit als Opernorchester im Stadttheater Bern leistet. Wie hast du diese Doppelbelastung empfunden?
Das war eher ein doppeltes Glück, in diesen beiden Welten zu spielen. Schon der Blick hoch in die 1. Reihe, und das Publikum strahlen oder heulen sehen! «Figaros Hochzeit», «Salome», «Falstaff» sind selbst für uns Kellerkinder im Orchestergraben ein Fest mit grossen Gefühlen. Der Wahnsinn auf der Opernbühne, das herzerweichende Singen (und die verschleppten Tempi) dringen ja zu uns durch. Regenerierend sind dann wieder die Ansprüche auf dem Konzert-Podium: Hier geht es um musikalische Inhalte, um das Symphonieorchester als verzaubernder Klangkörper, ein Ort passionierter Konzentration.
Als Leiter des Jugend-Sinfonieorchesters des Konservatoriums Bern leistest du Jugendarbeit und du hast dadurch Einblick in Probleme, die unsere Jugend beschäftigen. Wie erklärst du dir die enorme Spannbreite zwischen höchstem Engagement – wie bei deinen jungen Musiker-innen und Musikern – und sinnloser, stetig zunehmender Gewaltbereitschaft der heranwachsenden Generation?
Diese (männliche!) Generation wächst in einer gewalttätigen Welt auf, aber es gibt ja Hoffnung: Viele Projekte, die die Jugend an die Musik heranführen, zzum Beispiel Menuhins «MUSE» oder die Sistema-Bewegung in Venezuela («Gib mir deine Pistole und ich gebe dir eine Geige»). Wir müssen allen Eltern und Erziehern dankbar sein, wenn sie die Kinder in-
strumental fördern können. Und ich erlebe junge Leute, die mit glühenden Ohren richtig ernste, grosse Kunst machen wollen — Kunst nicht als Schmerzmittel fürs falsche Leben, sondern als Schlüssel zur Überhöhung und Grenzerfahrung. Etwas weniger geschwollen: Sie suchen die Lust am Zusammenspiel und entwickeln beträchtlichen Stolz aufs eigene Orchester.
Zurück zum Orchester: Die Struktur des Orchesters und die Zusammenarbeit mit dem Stadttheater sind Gegenstand von Diskussionen auf politischer Ebene, mit vorläufig ungewissem Ausgang. Wenn ich dich frage, wo das BSO in zehn Jahren stehen wird, würdest du in die Haut eines Propheten schlüpfen?
Unser absolut nicht elitäres Publikum sollte unbedingt verhindern, dass sein Sinfonieorchester als Opernorchester verkümmert, mit gelegentlichen Auftritten im Casino — das wäre die schlimmstmögliche Wendung. Der Verzicht auf grosse Symphonik – eigentlich ist das undenkbar! Ein Abbau beim BSO hinterlässt Verarmung, Kultur aber ist ein Lebensmittel! Ich bin sicher: Je kleiner das Angebot, umso kleiner das Publikumsinteresse. Es bleiben dann nur noch massentaugliche Wohlfühlmusik und Kuschel-Klassik.
Ingo, jeder Mensch, der das Pensionsalter erreicht, wird von der Frage begleitet: «Was nun?» Deine Familie, deine Freundinnen und Freunde, deine Kolleginnen und Kollegen, deine Schüler-innen und Schüler, dein Publikum stellen sie. Wir sind gespannt auf deine Antwort und deine Pläne.
Jetzt kommt erstmal ein selbstkritisches kurzes Aufräumen der Biografie, kein Durchatmen, sondern voller Einsatz für das Jugend-Sinfonieorchester. Dieses Kraftfeld «Orchester» vibriert für mich immer weiter, ich bin süchtig nach diesen wabernden symphonischen Entladungen.
Ich bedanke mich herzlich für dieses Gespräch und ich wünsche dir für die Zukunft alles Gute!
Ingo Becker, Jahrgang 1944, ist im damaligen Ost-Berlin aufgewachsen, ab 1958 in West-Berlin, wo er nach vielen beruflichen Umwegen ab 1966 an der Musikhochschule Fagott studierte. 1971 erhielt er seine erste Orchester-Stelle in Biel, von 1974–2009 war er Solo-Fagottist im Berner Symphonieorchester. In diesen langen Orchesterjahren entfaltete er neben seinem musikalischen Einsatz eine rege Anteilnahme am Geschick des BSO mit gewerkschaftlich-hoffnungsvollem Engagement.
Während mehr als 25 Jahren wirkte er an der Musikschule Konservatorium Bern und an der Berner Musikhochschule als Lehrer für Fagott. Als Mitbegründer des Ensembles «Die Schweizer Bläser-Solisten» hat er zahlreiche Bearbeitungen für Bläserensembles verfasst. Seit 1994 leitet er das Jugend-Sinfonieorchester des Konservatoriums Bern.
Foto: zVg.
ensuite, Dezember 2009