Von Lukas Vogelsang — Zur Preisverleihung «Historisches Hotel des Jahres 2012» verschlug es mich nach Bergün im Engadin. Das Kurhaus Bergün wurde am 15. September 2011 ausgezeichnet – nicht für ein Ziel, welches erreicht, sondern für den Weg, der mit den herrlichen Jugendstil-Renovationen eingeschlagen wurde. Neben den vielen Rednern kam der Hotelier Felix Dietrich, der Herzblut-Hotelier vom Hotel Waldhaus in Sils-Maria, zu Wort. Also, eigentlich übergab er das Wort gleich seinem Freund und Musiker Domenic Janett, einem begnadeten Klarinettenspieler, und dieser begann mit seinem Instrument in den Raum zu improvisieren.
Seit über 10 Jahren bin ich jetzt mit ensuite – kulturmagazin für die Kultur- und Kunstszene in Bern und unterdessen auch Zürich unterwegs. Aber ich kann die Momente, welche für mich als kulturelle und künstlerische Highlights gelten, an den Fingern zweier Hände abzählen. Das Klarinettenspiel von Domenic Janett gehört dazu. Bereits mit dem ersten Ton wurde der Bergüner-Jugendstilsaal wach, und begann mit Janett zusammen zu harmonieren. Erst introvertiert, in sein Instrument versunken und dem Klang zuhörend, sah Janett plötzlich hinauf in den Raum – mir stellten sich die Nackenhaare auf. Es schien, als ob alles um mich herum hinter Wolken verschwinden würde, und ich wie mit dem Flugzeug in den Himmel fliegen. In diesem Moment, im Klang, verstand ich einmal mehr, was in vielen Kunst-Erklärungsversuchen als «göttliche Berührung» bezeichnet wird.
Warum ich das hier erzähle? Weil ich seit je auf der Suche nach solchen Momenten bin, und diese Kunst, diese Perfektion mich einst dazu getrieben hat, ein Kulturmagazin aufzubauen. Als ich mich noch selber in der Kleinkunst versuchte, waren diese Momente öfters zu erleben. Heute scheint mir, dass die wahre Kunst ziemlich am Aussterben ist, das Wissen um die Essenz kaum noch vorhanden ist. Heute redet man von Konzeptkunst, und dass «alles Kunst» sei – ohne aber den Begriff fassbar zu definieren. Der Begriff Kultur leidet an ähnlichen Symptomen: Jeder Event ist Kultur und enorm wichtig. Wehe dem, der etwas verpasst hat – gemäss einigen PolitikerInnen fehlt es dann an «Bildung». Ich meine, mit gleichem Erfolg kann man auch Zeitung lesen. Es ist die Moral, die nicht funktioniert: Zum Einen das einzelne Individuum überfordern, und zum Anderen Kulturinteresse voraussetzen. Das ist, als ob wir Eiswürfel in die Wüste tragen würden. Kultur kann nur unter und mit mehreren Menschen stattfinden und sich definieren.
Wir haben heute Fabriken, die jährlich Hunderte von KünsterInnen auf die Strasse werfen. Diese möchten gerne für ihre Arbeit bezahlt werden, und weil Kultur und Kunst als so wertvoll von der Politik prestigeträchtig promotet werden, halten diese neuen KünstlerInnen erst mal die Hand hin, damit sie ihre Projekte realisieren können. Die Kulturförderung könnte man überspitzt und polemisch mit «Arbeitslosenkasse für KünstlerInnen» benennen. Ich bin nicht blöd und mir natürlich bewusst, dass viele Projekte, die auch nachhaltig sind, nur durch öffentliche Förderbeiträge zustande kommen. Auch ensuite hat 9 Jahre lang versucht, an öffentliches Geld zu kommen. Oder nehmen wir aus aktuellem Anlass das Kurzfilmfestival Shnit: Ohne öffentliches Geld wäre es unmöglich und unvorstellbar, ein solches Unternehmen überhaupt zu erdenken. Wenn ich also Witze über arme KünstlerInnen mache, oder die Kulturförderung in Frage stelle, so meine ich das im positiven Sinne für die Kultur und Kunst: Wir müssen öffentlich darüber reden – so geht es nicht weiter.
Die städtische Kulturförderung von Bern – um nur bei einer Stadt zu bleiben – hat bald kein gültiges Kulturkonzept mehr. Das letzte Konzept aus dem Jahr 2007, für die Jahre 2008 — 2011, war denn auch schon kein richtiges Konzept, auch keine Strategie, wie es oft genannt wurde, sondern nur der Versuch einer Standortbestimmung ohne Ziel und Wegbeschreibung. Wenn wir ehrlich sind, so bestand das Konzept aus einem Budget – und dieses Budget ist bereits heute Makulatur. Inhaltlich gibt das alte Dokument keine Richtlinien und auch keine Idee, was Bern kulturell eigentlich will. Ich gehe noch weiter: Bern hat es bis heute nicht geschafft, ein kulturelles Inventar zu erstellen, man weiss nicht, wer eigentlich KünstlerIn wäre oder wie viele Kulturvereine es gibt, wer wo veranstaltet. Wie viele Bühnen hat Bern? Wie viele Theatergruppen gibt es? Wer spielt professionell ein Instrument? Wo sind die AutorInnen, wo treffen sich die Denker- Innen? Wer kennt die Namen der Berner Kunstschaffenden?
Die Idee der Kulturförderung ist zum Geldsack geschrumpft. Jene, welche aus diesem Sack Geld verteilen, haben Zahlen im Kopf – die Kultur oder die Kunst sind vergessen gegangen. Und das gilt auch für die neue Generation der «Retort-enkünsterInnen». Heute müssen sich die wahren KünstlerInnen erklären, müssen ihre Arbeiten vor unqualifizierten Leuten beschreiben. Allerdings kenne ich viele namhafte KünstlerInnen, die nie einen Rappen von der öffentlichen Hand erbeten haben, weil die Angst vor der Bürokratie und die Entwürdigung der Kunst ein zu hoher Preis sind. Da stellen sich mir ganz viele Fragen über Kultur und Kunst. Und es geht mir absolut nicht darum, weniger Geld zu verteilen, vielmehr, sinnvoll damit umzugehen. Nur: Was macht Sinn?
Die Abteilung Kulturelles der Stadt Bern ist zu einer Abteilung für Stadtunterhaltung verkommen. Berner Kultur und Kunst hat keine Ziele, keine Ausrichtungen, keinen Stolz und kaum den Willen, mehr zu sein als belanglose Kreativ-Produkte. Klänge, wie sie Domenic Janett spielt, finden wir in Bern kaum – und wenn, dann abseits vom Lärm, und sicher nicht an Stadtfesten, welche 1,3 Millionen kosten sollen. Die absurde Absicht hinter einer solcher Kulturförderung ist mir schleierhaft. Kultur und Kunst sind nicht überlebensnotwendig, und wir müssen sie nicht zwingend kaufen. Kultur ist aber auch der Leim einer Gesellschaft. Wenn wir dafür die Wahrnehmung verlieren, so geht nicht nur unsere Gesellschaft, sondern unsere gemeinsame Geschichte verloren. Ohne Geschichte haben wir sehr wenig Identität, und ohne Identität werden die Entscheidungen für die und in der Zukunft quälend sein.
Kultur und Kunst dürfen nicht einfach leeres modernes Gesellschaftsentertainment sein. Auf jeden Fall nicht so, wie es uns täglich suggeriert wird. Kultur ist mehr: Kultur ist die Verbindung des Individuums mit dem Rest darum herum. Ohne diesen Rest wären wir nur Individuum – ein Staubkorn im Nichts. Wer das versteht, der beginnt wohl irgendwo den Klang einer Klarinette zu hören…
Bild: Der Bündner Domenic Janett bricht mit dem Klang der Klarinette Raum und Zeit auf. / Foto: Lukas Vogelsang
ensuite, Oktober 2011