Der Ernstfall tritt ein

Es reg­net in Einem fort, und man ist froh, dass einen die Darsteller des Schaus­piels „Rück­zug“ in den Zivilschutzbunker bit­ten. Die Begrün­dung: Wir üben den Ern­st­fall und wir machen uns mit der Bunker­an­lage ver­traut. Ern­st­fall. Das Wort bleibt mit dem kalten Krieg ver­bun­den, mit dem immer wieder her­bei fan­tasierten Über­fall der Sow­je­tu­nion auf die Schweiz, mit Atom­krieg, Wel­tun­ter­gang. Doch unter Ton­nen teurem Schweiz­er Beton über­lebt man selb­st den. Das beweist die nun fol­gende Führung durch die Anlage.

Frei­heit in Gefan­gen­schaft

Allerd­ings über­dauern die alten Vorstel­lun­gen vom Ern­st­fall die näch­sten Minuten nicht. In der Ein­gang­shalle ist ein alpines Land­schafts­bild mit Geranienkästen davor aufge­baut. Ein Tra­cht­en­mann spielt Alphorn, eine Tra­cht­en­frau zupft die Zit­ter. Heimatk­itsch vs. Ern­st­fall. Geschützt wird im Bunker offen­bar das, was man in urschweiz­erisch­er Mundart Swiss­ness nen­nt, bedro­ht durch deutsche Inva­soren, amerikanis­che Steuervögte und eurokratis­che Teufel. Gott sei Dank dür­fen wir brave Schweiz­er uns durch ein Holzhäuschen in das innere des Bunkers zurückziehen.

Wir marschieren in Ein­erkolonne, wer­den in einem lan­gen Durch­gang eingeschlossen. Eine Zivilschützerin erk­lärt uns, dass es nun darum gehe, unsere Frei­heit zu vertei­di­gen. Dazu seien Diszi­plin, Gehor­sam und Ent­behrung notwendig. Sehr ein­leuch­t­end: frei sein heisst also sich der Bun­kerord­nung ganz zu unter­w­er­fen, wenn nötig für viele Jahre (siehe Wel­tun­ter­gang). Um keine falschen Sehn­süchte aufkom­men zu lassen, müssen per­sön­liche Gegen­stände jet­zt abgegeben wer­den. Nun ist es nicht mehr lustig. Ein mul­miges Gefühl beschle­icht die Einges­per­rten. Gefan­gen­schaftssyn­drome zeigen sich. Einige kich­ern komisch. Über­all Panz­ertüren, Lack­farbe über Beton, Schleusen, Leuchtröhren, Lüf­tungsrohre. Und es wird ver­dammt eng, wenn, im ern­stesten Ern­st­falle hier 250 Men­schen einge­bunkert sind.

Ein einig Volk im Bunker

Die vierzig Besuch­er machen sich durch ihre Gefühlsre­gun­gen selb­st zu Darstellern des Bunkerthe­aters. Das Schaus­piel hängt eben so von ihnen ab wie vom Bunker­per­son­al. Dieses verteilt sich, heisst die Besuch­er von Raum zu Raum zirkulieren, kom­mandiert sie herum. Alle Anwe­senden als Ganzes sind das The­ater. Sie spie­len in einem real­is­tis­chen Stück in einem sehr realen Raum mit. In diesem Punkt gelingt das Unternehmen „Rück­zug“. Hier ist das Schaus­piel stark, zumal die vorhan­dene Anlage dra­matur­gisch geschickt genutzt wird. Aus den Lüf­tungsrohren erklin­gen Schweiz­er Heimatlieder (D’Appizöller sönd loschtig… s’wott es Fraueli z’Märit gah…) – und die Sehn­sucht – verkör­pert durch einen Geigen­spiel­er kriecht durch die Schächte. Sie erfasst selb­st das ener­gis­che Bunker­per­son­al. Eine jede und jed­er hat einen per­sön­lichen Gegen­stand hineingeschmuggelt. Damit rück­en die Darsteller auf die Stufe der Besuch­er. Wir sind nun ein einig Volk von freien Schweiz­ern. Eine nette Brasil­ianer­in darf selb­stver­ständlich dabei sein, darf sog­ar die Tage­sor­d­nung vor­lesen, auch wenn sie nie­mand ver­ste­ht: „Sibene Uhr, Frug­gset­ick fase…“

Das schwarze Schaf

Doch die Einigkeit ist von kurz­er Dauer. Aus einem Schacht kriecht ein abgewiesen­er Asy­lant. Er hat sich hier als ille­galer Bewohn­er ein­genis­tet. Das geht gar nicht, denn es ist ja der Ern­st­fall einge­treten. Der Ille­gale wird, nach heftigem Stre­it, aus der Anlage gewiesen. Bei diesem und eini­gen weit­eren insze­nierten Ereignis­sen geht die Wirkung des Stücks etwas ver­loren. Seine Kraft beruht darauf, dass es stets auf der Kippe zwis­chen Schaus­piel und Wirk­lichkeit bal­anciert. Obwohl an sich gut gespielt, wirkt die Asy­lanten­szene in diesem Zusam­men­hang zu aus­drück­lich. Dass Asy­lanten in Zivilschutzan­la­gen wohnen müssen, haben wir auch ohne diesen Auftritt begrif­f­en.

Die Führung durch den Bunker lohnt sich trotz­dem. Sie macht Lust auf mehr The­ater an ungewöhn­lich realen Schau­plätzen. Hebt den Hin­tern von den The­ater­stühlen! – möchte man am Ende aus­rufen. Abge­se­hen davon haben die Beteiligten am Schaus­piel die Anlage aufwändig und wirkungsvoll für das The­ater­ex­per­i­ment vor­bere­it­et.

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Artikel online veröffentlicht: 31. Mai 2013 – aktualisiert am 17. März 2019