Das Fleisch ist willig, die Fiktion stark: Dystopien heute

Von Dr. Reg­u­la Stämpfli — «Die Beteiligten begeg­nen sich auf Augen­höhe, sind sich näher, sehen einan­der direkt an und gehen weniger auf Kon­fronta­tion. Ein run­der Tisch sorgt für weniger Diskus­sion und spart Zeit. Er stiftet das Gefühl von Zusam­menge­hörigkeit und ein­er gemein­samen Sache. Wer hätte gedacht, dass sich auf diese Art der Kom­mu­nis­mus in ein lib­erales Meet­ing ein­schle­icht?» Joseph Incar­dona, geboren 1969 in Lau­sanne, hat einen extrem guten zeit­genös­sis­chen Roman geschrieben.

Hunter S. Thomp­son wäre stolz auf ihn. «Das Game» erzählt vom zeit­genös­sis­chen pop­kul­turellen Wahnsinn. Der Roman ist eine Achter­bah­n­fahrt zwis­chen dystopis­ch­er Satire und knall­har­ter Real­ität­skri­tik, die keinen Stein auf dem anderen lässt. Der Roman, aus dem Franzö­sis­chen von Lydia Dim­itrow bril­lant über­set­zt, trifft Jar­gon, Tonart, Ref­eren­zen aus dem franzö­sis­chen Orig­i­nal.

Der Schweiz­er Schrift­steller Incar­dona ist in Lau­sanne, in ein­er beschaulichen Ecke der Schweiz, geboren, ein­er Schweiz der diskreten Banken und der gepflegten Zurück­hal­tung. Mit «Das Game» wirft Incar­dona jedoch eine poet­is­che Hand­granate mit­ten in die selb­stzufriedene und moralisch selb­ster­mächtigte Medi­en­welt. Nicht so gut wie «Die ver­lorene Ehre der Katha­ri­na Blum» (1975), aber viel bess­er als Dave Eggers viel gerühmtes Werk «The Cir­cle». Schau­platz bei Incar­dona ist ein unschein­bar­er Bun­ga­low an der Atlantikküste. Haupt­fig­ur ist Anna, eine boden­ständi­ge Frau, die sich und ihren sur­fend­en Sohn Léo mit dem Verkauf von Bio-Brathäh­nchen über Wass­er hält. Dann schlägt das Leben, sprich Schick­sal und Kap­i­tal­is­mus – eine ver­heerende Kom­bi­na­tion – gnaden­los zu: Anna braucht drin­gend Geld. Dies wird ihr von einem Medi­enkonz­ern in Form eines absur­den, quoten­starken Fernse­hfor­mats ange­boten. «Das Game» ver­langt von seinen Teil­nehmenden, ein Auto so lange zu berühren, bis alle Wet­tbe­wer­ber, bis auf den let­zten, zusam­menge­brochen sind. Ver­stei­fung der Glieder, Marterung des Kör­pers, eine unterirdis­che Langeweile, die Body und Soul zer­set­zt, dies alles vor laufend­er Kam­era. Ein Mil­lio­nengewinn für Medi­enkonz­ern, Social Media, Users, Jour­nal­is­ten, ein Über­lebens­gewinn für die Mut­ter und ihren Sohn. Es gibt in dieser Art von Lohn­er­werb nur das Trump’sche Sys­tem: Win­ner or Los­er. Das Kap­i­tal hat sich vom Geld in den Kör­p­er ver­lagert. «Das Game» ist ein pack­ender Roman, ein zeit­genös­sis­ch­er Spiegel, eine wun­der­bare Mut­ter-und-Sohn-Geschichte.

Das The­ma der Würde­losigkeit vor laufend­er Kam­era liess mich indessen nicht mehr los. Was passiert hier eigentlich, als wäre völ­lig nor­mal, was so abwegig ist?

Für Unter­schicht­en gibt es kaum mehr andere Chan­cen für den Auf­stieg als über Aufmerk­samkeit. Aufmerk­samkeit ist eine ein­same, indi­vidu­elle Angele­gen­heit. Man muss bere­it sein, für gerin­gen materiellen Wohl­stand vor laufend­er Kam­era die Würde zu verkaufen. Die «erfol­gre­iche» west­liche Exis­tenz läuft nicht über «Han­deln», son­dern über «Zeigen». Kon­nte ich als junges Mäd­chen noch vom Lehrerin­nen-Beruf träu­men, ein­er Pro­fes­sion, die mich im let­zten Jahrhun­dert an die Uni­ver­sitäten und ins Ver­mö­gen gebracht hat, müssen heutige Kinder aus Unter­schicht­en wie im Mit­te­lal­ter ihren Kör­p­er hergeben: als Bild, als Fik­tion, als Fan­tasie, für alle Betra­chter aus­beut­bar. Ger­ade weil die glob­ale Elite Men­schen­fleisch braucht, um den glob­alen Finanzkap­i­tal­is­mus weit­erzutreiben, in dem Men­schen nicht mehr Kred­it kriegen, son­dern ihn sind, propagiert sie neue Begriffe für alte Aus­beu­tung: Sexar­beit und Leih­mut­ter­schaft beispiel­sweise. Oder sie trans­formiert men­schliche Abgründe in nette, neue griechis­che Wörter wie «para­phil». So wer­den neu Per­verse, die bspw. auf Sex mit Tieren oder Kindern ste­hen, umgar­nt. In unser­er «sex­pos­i­tiv­en» Zeit, die ich das «Zeital­ter pornografis­ch­er Gewis­sheit» nenne, wird «para­phil» nicht als abscheulich und ver­w­er­flich dargestellt, son­dern lediglich als «Störung der Sex­u­al­präferenz, ver­bun­den mit drang­haften sex­uellen Bedürfnis­sen oder Fan­tasien, die von ein­er bes­timmten Gesellschaft als nicht nor­mal ange­se­hen wer­den». (Wikipedia)

Die Real­ität hat die Dystopie also schon längst über­holt und ist nicht poet­isch, deshalb beruhigt mich der Roman von Incar­dona in grossem Masse. Er ist so ruhig geschrieben, so nor­mal, und es gibt eine ganz klare Teilung in Gut und Böse. Es ist ein Roman über die Liebe in ein­er Zeit voller Nihilis­mus.

Begonnen hat die Real­i­ty-TV-Dystopie übri­gens im pri­vat­en Unter­schichts­fernse­hen, das unglaublich gerne vom Bil­dungs­bürg­er­tum geguckt und pop­kul­turell über­höht wurde. Vor 25 Jahren sorgte «Big Broth­er» für gross­es medi­ales Auf­se­hen – mein Gott, dabei waren die Con­tain­er so unglaublich brav. Die heuti­gen For­mate und Kör­pere­in­sätze sind viel krass­er: Immer mehr reicht kaum mehr aus. «The Voice Kids» ist momen­tan­er Hit in Deutsch­land, rührt auch mich zu Trä­nen angesichts dieser hoff­nungsvoll tal­en­tierten zwölfjähri­gen Diver­si­ty-Jugendtruppe. Näher betra­chtet ist die Ver­anstal­tung aber ganz bru­tal ein Fleisch- und Tal­ent­markt von Kindern zwecks Unter­hal­tung ihrer Eltern, der Erwach­se­nen und Gle­ichal­tri­gen. Wäre ich heute zwölfjähriges Unter­schicht­skind, würde ich alles tun, um bei irgen­deinem dieser For­mate unterzukom­men. Auf­stieg ist alles, was zählt – den Luxus, bei solchen Wet­tbe­wer­ben nicht teilzunehmen, kön­nen sich nur Super­re­iche leis­ten. Diese Erken­nt­nis ste­ht auch in «Das Game». Aus der Sicht von Han­nah Arendt sind Real­i­ty-For­mate die total­itäre Pri­vatisierung öffentlich­er Räume. Nicht die Frei­heit als Gle­iche im öffentlichen Raum zu par­tizip­ieren, zählt, son­dern «unfreie», d. h. per­sön­liche, Tal­ente, deren einziger Zweck darin beste­ht, zu unter­hal­ten. Aufmerk­samkeit kriegen Men­schen nicht, weil sie gestal­ten und han­deln, son­dern weil sie amüsieren, weil sie mit ihrem Kör­p­er, ihrer Stimme für andere Men­schen kör­per­liche Dien­stleis­tun­gen erbrin­gen. Damit sind Real­i­ty-Darsteller Waren, Pro­duk­te, abhängig von der Währung Aufmerk­samkeit. Sie wer­den vielmehr ver­han­delt, als dass sie sel­ber han­deln.

Umso wichtiger deshalb die Lit­er­atur, die Poe­sie sowie die kri­tis­che Auseinan­der­set­zung: Denn nur weil alle Real­i­ty-TV kon­sum­ieren, bedeutet dies nicht automa­tisch, dass das gut oder gar demokratiefördernd ist. Karl Marx war ein Real­i­ty-TV-Kri­tik­er avant la let­tre. Es war Marx, der den Waren­fetis­chis­mus erfand. Dieser ist heutzu­tage die Aufmerk­samkeit. Infor­ma­tio­nen wer­den nicht kon­sum­iert, weil sie gewisse Funk­tio­nen erfüllen, son­dern weil sie genial insze­niert wer­den. Soziale Medi­en haben die Her­stel­lungskosten für Unter­hal­tung und Insze­nierung mas­siv gesenkt, so mas­siv, dass es kaum mehr Nach­frage gibt, weil die Ange­bots­seite riesig ist. Wir sind «over-opin­ion­at­ed und under-informed», und die Aufmerk­samkeits­mas­chine hört nicht auf zu rat­tern. Dieser fan­tastis­che Kap­i­tal­is­mus-Klick-Mix, der uns alle irgend­wie, irgend­wann um den Ver­stand bringt, wird bei Incar­dona gut beschrieben.
«The Game» ist deshalb goldrichtig, darüber hin­aus in eine sehr berührende Mut­ter-Sohn-Geschichte gewebt. Der Kampf ums nack­te Über­leben ist allen Real­i­ty-Shows inhärent: Men­schen brauchen Geld und Aufmerk­samkeit und kriegen, wenn bei­des zur Genüge vorhan­den ist, Unab­hängigkeit. Incar­donas Roman tut weh, weil er nicht bloss eine Satire ist, son­dern ein Spiegel, der unsere Gesichter scho­nungs­los zeigt – verz­er­rt durch das grelle Neon­licht unser­er Sehn­süchte. «The Game» ist weniger bru­tal als die Net­flix-Serie «Squid Game» und weniger entwürdi­gend als «Dschun­gel­camp».

Was heute TV-Dystopi­en sind, waren damals Lit­er­atur-Dystopi­en, und deshalb darf hier der Ver­weis auf George Orwell nicht fehlen.

Joseph Incar­dona: Das Game. Lenos-Ver­lag 2025.

Artikel online veröffentlicht: 1. April 2025 – aktualisiert am 25. Juni 2025