Von Janine Reitmann — Sie läuft. Das Mädchen läuft. Beim ersten Ziel fallen ihr die Beine ab, zuerst das rechte, dann das linke. Sie läuft weiter. Beim nächsten fallen ihr die Augen aus, sie kann nichts mehr sehen. Sie läuft weiter. Stück für Stück fallen ihr Hautstücke und Finger ab. Keine Luft, schon lange kann sie nicht mehr atmen. Sie läuft. Niemand hat ihr geholfen. Niemand wollte ihr helfen. Nie hat ihr jemand gesagt, dass sie auch spazieren, sitzen oder liegen könnte. Alles hat sie betäubt, ihr Körper, ihre Gefühle und ihren Willen, nur um so laufen zu können. Sie kann die Gedanken nicht ertragen, dass sie versagen würde. Sie bemerkt, dass sie so nicht weiter kann. Sie wird wütend. Um sich schlagend, reisst sie sich die restlichen Hautfetzen vom Leib, beisst sich die Lippen durch und schlägt ihren Kopf blutig. Sie will nicht aufgeben und läuft weiter. Nach drei Metern fällt sie zu Boden. Ihr winziger, zierlicher Körper kühlt ab und schläft ein.
Die Uhren lassen ihre Zeiger fallen und wir fangen an zu denken. Ein Film entsteht. Die Musik von Yann Tiersen lässt alle Gedanken zu, sie verurteilt nicht, ist ehrlich und begleitet uns mit ihrem anständigem, bescheidenen und wundervoll dramatischen Charakter. Es schmerzt mich beinahe, wenn ein Stück endet. So schnell und unerwartet fällt der letzte Ton. Mit jeder Pause zwischen den Liedern muss ich mir erneut eingestehen, dass die Welt nicht ist, wofür ich sie halte. Doch kaum hat das neue Lied begonnen, fühlt sich der Körper wieder umsorgt und die Gedanken verstanden. Alle unlogischen Hirngespinste werden akzeptiert. Die Musik öffnet eine zweite Welt, in der alle so sind, wie sie sind, Weinen dasselbe ist wie Lachen, ohne Worte, in der nur der Ausdruck zählt. Worte sind überflüssig, es wurde schon alles gesagt. Genauso die Musik: wortarm vollkommen.
Nach dem Konzert, welches am 17. Dezember in der «Usine PTR» in Genf stattfand, wollten wir mehr als nur klatschen, es wirkte unausreichend für die vollbrachte Leistung. Ich persönlich hätte es angemessen gefunden, auf die Bühne zu hüpfen, ihn zu umarmen und ihm zu danken. Diese nicht mehr selbstverständliche und vor allem nicht mehr alltägliche Leidenschaft, mit der Yann Tiersen die Instrumente zum Leben erweckte, schwebte fast greifbar im Raum. Ein kurzes, verträumtes, unglaublich charmantes Lächeln und ein feines schüchternes «Merci» zum Schluss und der Abgang waren so unaufdringlich perfekt, wie es heute praktisch nirgendwo mehr zu sehen ist. In unserer heuchlerischen Zeit tut es gut, ehrliche Bescheidenheit erfahren zu dürfen.
Nach dem erstmaligen Hören von Yann Tiersens live aufgenommenen Werk «C’était ici» war ich kaum noch fähig aufzustehen, ich hatte vergessen, wie man die Beine benutzt, den Mund oder die Hände. Doch das Gefühl war fantastisch, Gedanken wurden einfach nur gedacht. Ohne Angst, sie könnten absurd wirken, seien gar falsch und vor allem ohne Drang, sie abwürgen zu müssen. Der Körper fühlte sich respektiert. Ich wünschte, es wäre möglich, die Musik, jedes einzelne Lied, immer wieder zum ersten Mal hören zu dürfen. Wie wunderbar wäre es, wenn alle ein klein wenig von Yann Tiersens Musik im Herzen tragen könnten. Nicht nur, weil sie neue Klangwelten entstehen lässt, sondern weil sie Fähigkeiten besitzt, die Schönheiten des Lebens wiederzugeben.
Yann Tiersen wurde 1970 in Brittany, Frankreich geboren. Der grosse musikalische Durchbruch gelang ihm mit dem Film-Soundtrack zu «Amélie» im Jahr 2001 und danach zu «Good Bye Lenin!» (2003). Yann Tiersen hat viele Alben produziert – die CD «C’était ici» (Virgin 2002) ist sein vorletztes Live-Album.
Foto: zVg.
ensuite, Januar 2010