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Wenn nur das Hirn nicht wäre…

ensuite_156_Dezember_TitelVon Lukas Vogel­sang - In unser­er Welt läuft vieles absurd, kon­tro­vers: Der Men­sch erschafft alles Mögliche, um weniger zu denken. Wir ken­nen alle das Beispiel «Taschen­rech­n­er » aus unser­er Schulzeit. Im Kopf ein paar Zahlen zusam­men­zuzählen ist heute für viele wesentlich schwieriger, als einen ganzen Com­put­er zu instal­lieren, der dann für uns die paar  Zahlen rech­net.

Mit Google hat der Men­sch ein Werkzeug erschaf­fen, um zu Vergessen. Wir kön­nen zwar viele Fra­gen stellen und  erhal­ten irgendwelche Antworten, doch geht es dabei nur um die Befriedi­gung ein­er Neugierde, oder die  Erledi­gung ein­er Sache, aber die Qual­ität der Infor­ma­tion müsste über­prüft wer­den, und oft­mals haben wir  gle­ich wieder vergessen, was Sache war. Entsprechend dient Google nicht der men­schlichen Entwick­lung, dem  Fortschritt. Im Gegen­teil.

Die Erin­nerung ist heute nichts mehr wert. Darüber müsste man ja nach­denken. Natür­lich ist diese Idee falsch,  aber das «zeit­genös­sis­che» Denken deklar­i­ert alles von gestern als «von gestern». Das «Immerneu» hat sich in  unseren Köpfen als gut und älteres als schlecht definiert. Genau gle­ich wer­den Men­schen eingestuft, und damit  auch das Wis­sen und die Erfahrung. «Alt» ist uncool, ist nicht mehr gefragt. Warum das so sein soll, erk­lären wir  aber nicht. Es ist eine kom­plett dumme gesellschaftliche Pro­gram­mierung ohne Logik und Sinn – oder dann nur  mit dem einen einzi­gen Ziel: Etwas Neues zu verkaufen. Der «Neu-Wahn» hat also mehr mit Kap­i­tal­is­mus zu tun – nicht mit Intel­li­genz, Fortschritt, Entwick­lung und Verbesserung von Zustän­den. Das macht die Posi­tion des Denkens schwierig.

Man kann unsere Abnei­gung dem Denken gegenüber auch so betra­cht­en: Oft­mals sind Entschei­dun­gen, die wir  in der Ver­gan­gen­heit gefällt haben, fehler­haft gewe­sen, deswe­gen funk­tion­ierten sie nicht. Das wäre soweit ein  natür­lich­er Lern­prozess und ganz nor­mal – doch die Gesellschaft meint, dass Fehler schlecht sind. Man will nicht  fehler­haft sein. Und so liegt alle Hoff­nung auf dem Neuen, dem was kom­men wird. Allerd­ings ist das Grund­prob­lem, erst nachzu­denken, nicht ein­fach mit etwas Neuem gelöst. Und durch das Mis­sacht­en eines natür­lichen Lern­prozess­es, der aus Fehlern lernt, exper­i­men­tiert und Erfahrun­gen sam­melt, ver­nach­läs­si­gen wir unsere Entwick­lung.

Weit­er hat das auch ganz ein­fach damit zu tun, dass wir keine Ver­ant­wor­tung übernehmen wollen. Wer ein­mal ein Anschlussprob­lem mit Cable­com hat­te, der weiss was ich meine. Wir sind im Zeital­ter von syn­chro­nisierten Clouds, doch selb­st nach zwei Tagen tele­fonieren, «denkt» bei dieser Fir­ma noch kein­er sel­ber und schiebt das Prob­lem auf den näch­sten «Tech­niker ». Und ich meine damit nicht den ver­ständ­nisvollen Call­cen­ter-Mitar­beit­er aus Nord­deutsch­land, der noch nie in der Schweiz war und mein Prob­lem lösen sollte. Wie denn? Es ist Real­ität: Wir bauen heute unin­tel­li­gente und anonym-dumme Fir­men auf, die sog­ar noch gesellschaftliche Ver­ant­wor­tung tra­gen. Ich lästere bei Cable­com immer: «Wenn die NICHT arbeit­en, dann funk­tion­iert die Dien­stleis­tung.» Sagt das die Erde über uns Men­schen auch?

Man munkelt, dass vor allem «Linke» denken kön­nen. Aber das ist ein Gerücht und nicht durch­dacht. Denken hat nichts mit Rechts oder Links zu tun – obwohl es wesentlich ist, welche Hirn­hälfte wir beanspruchen –, und para­dox­er­weise läuft ger­ade dort die Welt verkehrt: Das Kreative wird rechts und das Ratio­nale links gedacht.  Ein inter­es­san­ter Unter­schied. Doch ist es egal, welche Erken­nt­nisse wir daraus ziehen, obwohl oft erwäh­nt, wird  das mehrfach ignori­ert.

Und wenn wir schon dabei sind: Humor hat auch viel mit Denken zu tun. Oft­mals wird  eine Satire nicht als solche erkan­nt, weil dazu schlicht das Hirn fehlt. Damit meine ich nicht nur fanatis­che  IS-Anhän­gerIn­nen oder Pegi­da-Verblendete, son­dern auch Jour­nal­istIn­nen, Kul­tur- und Kun­stschaf­fende. Die nötige Dis­tanz zu einem
The­ma nehmen zu kön­nen, um es humor­voll darzustellen, braucht Hirn.

Faz­it: Wenn nur dieses Hirn nicht wäre! Ohne Denken wäre die Welt so viel ein­fach­er. Man bräuchte nur wieder eine Keule – die reicht für einen Dia­log. Doch, wer sich mit Din­gen wirk­lich auseinan­der­set­zt, reift daran. Darum:  Was haben wir in diesem Jahr gel­ernt? Was kön­nen wir an Erken­nt­nis­sen mit­nehmen und vielle­icht im näch­sten Jahr bess­er machen? Was für ein Jahr war das über­haupt? Sind wir bessere, gescheit­ere, respek­tvollere Men­schen gewor­den? Und bitte, denkt fünf Minuten länger darüber nach…

Einen fröh­lich-besinnlichen Jahresab­schluss wün­schen wir von der ensuite-Redak­tion. Und als Geschenk für alle: Das näch­ste Jahr wird bess­er. Wie immer.

Artikel online veröffentlicht: 10. Dezember 2015 – aktualisiert am 17. März 2019