Von Klaus Bonanomi - 1. November 1983, Null Uhr Nullnull: Die Glocken der Heiliggeist-Kirche schlagen Mitternacht und läuten ein neues Kapitel in der Schweizer Mediengeschichte ein. Das Glockengeläut wird auf Radio ExtraBE direkt übertragen; danach folgt eine erste Ansage, ein erstes Stationssignet, der erste Song: In meiner Erinnerung war es „Red Red Wine“ von UB40.
Die Erinnerung kann täuschen; sie beschönigt einiges, blendet anderes aus und lässt vieles anders aussehen, als es damals wirklich war, als vor 20 Jahren die ersten Lokalradios und auch DRS3 auf Sendung gingen. Ich habe gute und weniger gute Erinnerungen an den Sender, der mir meine ersten radiophonischen Schritte ermöglichte: ExtraBE sendete aus dem „Löwen“, einer Spelunke in der Spitalgasse, und übertrug live und unfreiwillig die eine oder andere Schlägerei zwischen angetrunkenen Gästen; jeder verdiente gleichviel, ob Sekretärin oder Programmleiter; jede und jeder konnte, durfte, musste alles machen: Nachrichten lesen, Telefone beantworten, aus dem Rathaus berichten, Musik auswählen; manchmal kam jemand vorbei und brachte Kassetten von obskuren Bands wie „Züri West“.
Ich durfte für ExtraBE vom bisher letzten Schweizer Meistertitel der Young Boys berichten; die Aufstellung der YB-Meistermannschaft von 1986 kann ich noch heute auswendig: Zurbuchen; Conz; Wittwer, Weber, Schönenberger; Bamert, Prytz, Bregy, Siwek; und die Stürmer Zuffi und Lunde, die beide je zwei Tore zum entscheidenden 4:1‑Sieg über Xamax Neuenburg schossen. Eine sportliche Rivalität pflegten wir auch mit der Konkurrenz von Radio Förderband im „Bierhübeli“; weil sie gemäss ihrer RadioKonzession als Kultursender keine Nachrichten lesen durften, sangen sie sie oder trugen sie in Gedichtform vor, als eigenständige Kunstwerke… Radiomachen in jenen frühen Jahren, das war eine dauernde Gratwanderung zwischen Höhenflug und Absturz; es hiess manchmal Selbstausbeutung und Überforderung, Stress und Chaos. Und auf allfällige HörerInnen und ihre Bedürfnisse einzugehen, war nicht vorgesehen. Das Publikum fand selten lustig, was wir boten; die Folge: Die Werbung blieb aus, das eingesetzte Kapital war bald schon verbrannt, und neue Geldgeber liessen sich nur finden, indem man auf straffere Ordnung setzte und die Sender neu ausrichtete.
Seit den Neunziger Jahren ist im Lokalradiowesen Kommerz auf Megahertz angesagt; Radio Förderband wurde ab 2001 von einer international tätigen Consultant-Bude definitiv auf Stromlinienform getrimmt und neu positioniert als BE1, das erste Formatradio in der Schweiz, das konsequent auf ein schmales, hitorientiertes Musikprogramm setzt, auf wenig Infos und auf gebetsmühlenhaft wiederholte Claims: „Der beste Mix der 80er und 90er und die Megahits von heute“ lautet das Motto; Ziel ist es seither nicht mehr, Inhalte zu verbreiten, sondern „Ausschalt-Impulse“ zu vermeiden. Und da das neue Konzept die „Durchhörbarkeit“ fördert und sich immer mehr Leute von diesem Musikteppich berieseln lassen, musste ExtraBern bei der Nivellierung nach unten nachziehen.
Eine neue medienwissenschaftliche Studie weist nach, dass auch in den übrigen Regionen der Schweiz die Konkurrenz nicht zu einer Bereicherung der Radiolandschaft geführt hat, sondern zu einer „Homogenisierung“ der Programme. Eine bedenkliche Entwicklung, schreibt der Autor der Studie, René Grossenbacher: „Die Informationsleistung von Hitradio Z ist geringer als der Output an akustischen Erkennungsmerkmalen, und Lausanne FM strahlt mehr Werbung aus als Information.“ Doch just zum 20-jährigen Jubiläum scheint sich das Blatt wieder zu wenden. In Zürich soll ein neues Jugendradio auf Sendung gehen; DRS3 rückt die Kultsendung „Sounds“ wieder ins Programm und schaltet neue Infosendungen auf; und auch Radio ExtraBern hat die Zeichen der Zeit erkannt und setzt wieder auf mehr Information, auf ein typisch bernisches Gesicht statt auf ein beliebiges internationales Format. Ganz abgesehen davon, dass auch die kleinen Alternativstationen wie Radio RaBe unverdrossen weitersenden.
So könnte der 1. November 2003 doch noch ein gefreuter Radio-Jubiläumstag werden!
Aus der Serie Von Menschen und Medien
Cartoon: www.fauser.ch
ensuite, Oktober 2003