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Der zerbrochene Spiegel — Kulturgedanken zum neuen Leitbild

Von Lukas Vogel­sang - Es gibt eine Stadt im Vor­re­ich von Zürich, zwis­chen den Seen und Bergen, unweit von hier. Sie heisst Bern. Wir find­en sie auf fast kein­er Land­karte, doch wenn wir auf unser­er Reise zwis­chen Genf und Zürich eine Atem­pause ein­le­gen, so sind wir bere­its da. Es ist eine Stadt voller lustiger und artiger Gesellen, Frauen und Kinder. Sie arbeit­en tüchtig, bauen Strassen und Tun­nel, tra­gen Papi­er hin und her und wenn sie am Abend nicht zusam­men feiern, ins The­ater oder an Konz­erte gehen, so baden sie im Fluss, der sich durch die Stadt schlän­gelt. Anson­sten schlafen sie viel und leben gesund und sportlich. Es war ein schönes und ruhiges Leben, bis im Jahr 2005 der Spiegel zer­brach.

Kul­tur als Spiegel der Gesellschaft. 1996 wurde von der Abteilung Kul­turelles ein Kul­turkonzept her­aus­gegeben. Die kul­tur­poli­tis­che Prozedere dauerte über 3 Jahre. Eine der zwei Peti­tio­nen, die damals ein­gere­icht wur­den, hat­ten 63‘562 Per­so­n­en geze­ich­net. Das Kul­turkonzept wurde von ver­schieden­er Seite gefordert und aus diesem Mate­r­i­al entwick­elt. Neun grössere Kul­turin­sti­tu­tio­nen hat­ten sich zusam­men dafür stark gemacht. Deren Leis­tungsverträge laufen im Jahr 2008 aus. Jet­zt, im Jahr 2005, wird ein Nach­fol­gekonzept für die Zeit 2008 bis 2012 vorgestellt — oder bess­er, es wurde ver­sucht vorzustellen: Das neue Leit­bild der städtis­chen Kul­tur­förderung, erstellt im August 2005, wurde am 23. Sep­tem­ber, noch auf dem Weg zum Stadt­präsi­den­ten, poli­tisch und öffentlich zurück­gep­fif­f­en. Grund dazu gab erstens die totale Veröf­fentlichung des Konzeptes an die Medi­en, noch bevor die Kul­turin­sti­tu­tio­nen dazu Stel­lung nehmen kon­nten (rund 150 Insti­tu­tio­nen und Kul­tur­men­schen erhiel­ten die Doku­men­ta­tion) und zweit­ens die überdi­men­sion­ierte Wun­schvorstel­lung von 8.7 Mil­lio­nen mehr Geld für die Kul­tur­förderung pro Jahr mit der Andro­hung: «…dass sich die Stadt klar zu ihrer Kul­tur beken­nt und die nöti­gen Mit­tel bere­it­stellt. Finanziell den sta­tus quo zu erhal­ten, würde fak­tisch einen Abbau bedeuten, denn mit gle­ich viel Geld ist heute weniger möglich als früher. Das käme die Stadt gesellschaftlich und wirtschaftlich teuer zu ste­hen.»

Keine Grund­lage. Wer das Leit­bild liest stellt schon nach den ersten Seit­en die Berech­ti­gung für diesen Rückp­fiff fest. Das eigentliche Leit­bild ist keines: Es hat keinen Boden, keine Wände/ Gren­zen und kein Ziel/ Vision. Es fehlt das Gerüst. Die einzige Begrün­dung für die 8.7 Mil­lio­nen sind im Satz «es ist Zeit» zu find­en. Die let­zte Analyse vom Kul­tur­markt Bern wurde 1993 durchge­führt — pro Kul­tur notabene — um eben mitunter die damals laufend­en Peti­tio­nen zu stützen. Aber sei­ther gibt es keine Besuch­er­sta­tis­tiken, Entwick­lungs­analy­sen, Auswer­tun­gen… Wer behauptet, dass es in Bern immer mehr Kul­tur­in­ter­essierte gibt, muss dies begrün­den kön­nen. Es wäre falsch, nur die Muse­um­snacht oder die wirk­lich his­torischen Gros­sev­ents im His­torischen Muse­um als Ref­erenz zu betra­cht­en. Das gehört zu «Even­ti­tis» — eine ganz andere Zeit­er­schei­n­ung. Dazu kommt, dass ger­ade jene Ver­anstal­ter, die am meis­ten Zuwachs in den let­zten Jahren verze­ich­nen kon­nten, von der städtis­chen Förderung prak­tisch aus­geschlossen waren: Be-Jazz, The­ater an der Effin­ger­strasse, Wasser­w­erk, Music Bistrot, ISC, La Cap­pel­la, Appalooza GmbH (Bier­hü­be­li, BEA Nights und Gurten­fes­ti­val) und Pulls Pro­duc­tion AG (ehe­mals Bier­hü­be­li, Fes­ti­vals), OFF-Kinos, Gale­rien und noch mehr. Ger­ade diese Insti­tu­tio­nen haben Pub­likums­mag­nete geschaf­fen und sind die Entwick­lung­shelfer in der Bern­er Kul­tur. Die gross sub­ven­tion­ierten Insti­tu­tio­nen mussten teils beden­klich um die Pub­likums­gun­st buhlen.

Wohin des Weges? Die Boden­losigkeit hat aber noch eine andere, viel gefährlichere Ten­denz: Es fehlt die Philoso­phie — darüber täuschen auch einige Kalen­der­sprüche auf der Titel­seite des Leit­bildes nicht hin­weg. Im Konzept wer­den Zahlen und Fak­ten dem Sinn und den Fra­gen über­ge­ord­net. Eben­falls bleibt die Diskus­sion aus: die 76 Seit­en sind ohne Namen pub­liziert. Es wird behauptet, aber nicht vision­iert oder hand­fest begrün­det. Die Visio­nen sind Wün­sche und die sind so nicht brauch­bar. Kein Kurs, keine Umset­zung, kein Plan. Der einzige gesellschaftlich hand­feste Stützpunkt liefert noch die Fuss­ball-EM 2008. Danach gibt’s anscheinend nichts mehr bis im Jahr 2012. Das Leit­bild hat, bemühend «umfassend zu sein», sich mehr um die Kosten, als um die Qual­ität getrieben. Die sim­ple Frage nach «Ist das was wir haben auch gut genug, um weit­er­hin finanziert zu wer­den?», wird nicht beant­wortet. Keine Einsparung, da alles nur super ist, was Bern pro­duziert. Die NZZ am Son­ntag kom­men­tierte die Bern­er Kul­tur am 25. Sep­tem­ber 2005 so: «Mani Mat­ter ist tot, die Rei­thalle ein Abglanz alter Zeit­en und Kuno Lauen­er ein wan­del­ndes Selb­stz­i­tat.» Wird Bern in Zukun­ft die kul­turelle Lach­num­mer der Nation? Unlängst hat uns Zürich mit dem Züri-Dialekt den «Eugen» entwen­det: «Dadurch bekommt die Hand­lung jenen zürcherischen Dreh, den eine hiesiges Kul­tur­pro­dukt braucht, um schweizweit bemerkt zu wer­den.» So die «inter­na­tionale» NZZ. Es sind böse Worte. Was sind wir denn? Tanzs­tadt, Jaz­zs­tadt, Pop­stadt, The­ater­stadt, Muse­umsstadt, Sym­phoni­es­tadt, Lit­er­aturstadt, Film­stadt, Kun­st­stadt, Bären­stadt? Oder alles ein bis­chen? Wo liegt der Fokus?

Stre­ichkonz­ert. Mit der Absage vom Finan­zamt, aber auch vom Gemein­der­at, hat das Konz­ert einen neuen Klang erhal­ten. Im Leit­bild ist eine Spar­vari­ante bud­getiert, doch die ist immer noch zu hoch. Das Prob­lem dieses Leit­bildes ist nun, dass man — weil keine philosophis­che Vision zugrunde liegt — das gesamte Konzept weg­w­er­fen und neu machen muss. Es genügt nicht die Zahlen zu ändern — die «Fak­ten» sind ja gle­ich geblieben. Was vor­ange­hend so wün­schenswert hätte gefördert wer­den sollen, muss jet­zt abgestrichen wer­den und man kommt wieder zum gle­ichen Bud­get, welch­es wir jet­zt haben. Oder aber man nimmt sich die teueren Insti­tu­tio­nen vor und stre­icht dort… — kaum anzunehmen. Unter dem Strich wird also die «kleine Kün­st­lerin» die Ver­liererin sein und die Giesskanne wird weit­er dort giessen, wo der Boden schon überdüngt und unfrucht­bar ist.

Wer tut was. Diese Prob­lematik der Stadt Bern kön­nte aber einen Hin­weis darauf geben, dass Kul­tur­förderung nicht zu ver­wech­seln ist mit «Kul­tur machen». In vie­len Beispie­len hat die Abteilung Kul­turelles Insti­tu­tio­nen «sel­ber» auf die Beine gestellt, die bere­its Pri­vatwirtschaftlich funk­tion­ierten. Sie konkur­ri­ert damit zum Teil die Pri­vatwirtschaft und ignori­ert den Markt, der über­all zu berück­sichti­gen ist, auch in der Kul­tur. Als ern­stes Beispiel gilt dabei die Bern-Bil­let-Zen­trale, welche auf dem Platz Bern für Ver­anstal­ter als die Teuer­ste und Unbe­quem­ste funk­tion­iert und der Stadt nette Unkosten verur­sacht. Dass die Vor­pro­jek­te von Bern-Bil­let schon zwei Mal konkurs gin­gen, davon redet nie­mand. Die Abteilung Kul­turelles ist sog­ar stolz auf die Dien­stleis­tung dieser Bil­let-Zen­trale, obwohl der Ansturm der Ver­anstal­ter in die Gegen­rich­tung ver­läuft.

Das Debakel der Bern­er Kul­tur­a­gen­da muss man kaum erwäh­nen. Es ist eben­falls eine Eigen­leis­tung, welche viel Geld kostet und nicht befriedigt. Die einzi­gen Fir­men, welche sich hier­bei die Hände mit städtis­chem Geld reiben kön­nen, sind die Espace Medi­en AG (Druck des Heftes) und die pro­duzieren­den Repub­li­ca AG und Quer AG (sie gehören zu der Con­tex­ta-Wer­beagen­tur­Dy­nas­tie).

Kul­tur­markt. Eine gewisse Wirtschaftlichkeit muss einem Kul­turbe­trieb zuge­mutet wer­den — und diese darf von ein­er Stadt gefordert wer­den. Das hat auf die Kreativ­ität und die der Kün­st­lerin noch keinen direk­ten Ein­fluss. Die Insti­tu­tion oder der Ver­anstal­ter macht ja nicht die Kun­st an sich, son­dern präsen­tiert jene. Dafür gibt’s aus­ge­bildetes Per­son­al und Leis­tungsverträge, welche die Kün­ste schützen und ein Pub­likum, welch­es gewon­nen wer­den muss. Das gilt genau so für ein Stadtthe­ater oder die Museen, wie für den Pro­gr oder die Vil­la Bernau. Aber noch viel schwieriger würde die pri­vate Förderung in Unord­nung gebracht: Wenn sich das neue Kul­turleit­bild durch­set­zten würde, so wäre es das Aus für das Kul­tur­spon­sor­ing von der Wirtschaft oder von Pri­vat­en. Es gäbe keinen Sinn mehr, neben den Gross­förder­ern Stadt und der MIGROS Kul­tur­prozent Geld in die Kul­tur zu investieren. Dies kön­nte ins Auge gehen.

Die Mark­t­ge­set­ze gel­ten eben­falls für die Kün­st­lerin­nen. Es darf nicht sein, dass wir die Kul­turschaf­fend­en vol­lum­fänglich auf Wolke 7 tra­gen. Das Schaf­fen braucht eine Zukun­ft. Kun­st für die Kun­st sollte eine Ran­der­schei­n­ung und einen kleinen Kos­ten­teil aus­machen. Ein Schaus­piel­er muss gut sein und kein Maler hat ein Recht auf den Ankauf sein­er Bilder es muss ein Wert geschaf­fen wer­den. Und das braucht Zeit. Die gewün­schte Kul­tur­förderung der Stadt Bern geht dabei in die falsche Rich­tung. Christoph Reichenau, Leit­er der Abteilung Kul­turelles und Ver­ant­wortlich­er für das neue Leit­bild, bringt es auf den Punkt: ‚Mit diesem Betrag (die 8.7 Millionen/ Anmerk. Redak­tion) sei die hiesige Kul­turszene «nicht mehr unter­fi­nanziert» und deshalb seien auch am einen oder anderen Ort mehr Spitzen­leis­tun­gen zu erwarten. (Zitat «Der Bund» vom 17. Sep­tem­ber 2005) Mit anderen Worten heisst dies, dass man die Spitzen­leis­tun­gen noch nicht gefun­den hat! Und jet­zt, mit ein­er mas­si­gen Investi­tion, suchen will. So kann natür­lich kein Förderungskonzept funk­tion­ieren.

Faz­it. Eines ist nach der Lek­türe auf jeden Fall klar: 8.7 Mil­lio­nen sind viel zu viel. Das Leit­bild wieder­spiegelt aber ein zeit­genös­sis­ches Denken und kann als Lern­doku­men­ta­tion dur­chaus her­hal­ten. Es ist ein Beken­nt­nis zur Vision­slosigkeit nicht eines zur Kul­tur also zeit­genös­sisch. Wir kön­nen jet­zt einem span­nen­den Kul­tur­dia­log ent­ge­gense­hen und uns für die näch­sten 3 Jahre zusam­menset­zen. Das viele Papi­er stellen wir ins Regal, die Kul­tur in Bern würde darin erstick­en und der Spiegel würde für eine lange Zeit zer­brochen bleiben.

Car­toon: www.fauser.ch
ensuite, Okto­ber 2005

Artikel online veröffentlicht: 7. Juli 2017 – aktualisiert am 19. Juli 2017