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Die leidenschaftlich Unangepasste

By Stephanie Rebon­ati

Vor dem Tram standen Frauen, bis kurz vor der Abfahrt auss­chliesslich Frauen. Sie waren zwis­chen fün­fund­vierzig und siebzig, tru­gen das Haar kurz oder auf Kinnlänge und unter­hiel­ten sich in Grup­pen. Sie sagten: “Ein Frauen­tram wird das!» oder “Hoi Tru­di, deine grüne Hose habe ich sofort gese­hen, die habe ich ja auch!» oder “Es gibt heute so viel in Zürich, man muss Pri­or­itäten set­zen». Die Frauen tru­gen fast alle Foulards, gepunk­tete oder kari­erte, sei­den­feine oder grob gehäkelte, alle far­big, sie erin­nerten an Schals, die man in Muse­umsshops kauft. Ähn­lich der Schmuck: milchige Glaskugeln, klo­bige Quadrate aus Papp­maché.

Vor dem Tram standen Frauen, die wussten, wer Lau­re (gesprochen: Lor) Wyss war. Zum hun­dert­sten Geburt­stag dieser aussergewöhn­lichen Frau fuhr ein Tram in der Stadt Zürich ihrer Biografie ent­lang. Belle­vue, Parade­platz, Stauf­fach­er, Bahn­hofquai, Schaffhauser­platz, Milch­buck, Irchel, Kun­sthaus, Belle­vue. Während der ein­stündi­gen Fahrt lasen Bar­bara Kopp, Zürcher Schrift­stel­lerin, und Reg­u­la Imbo­den, Wal­lis­er Schaus­pielerin, aus Büch­ern, die Lau­re Wyss’ Leben erzählen. Bar­bara Kopp ver­fasste das aktuell­ste: “Lau­re Wyss. Lei­den­schaften ein­er Unangepassten», im Juni diesen Jahres im Lim­mat Ver­lag erschienen. Ein Buch mit Sätzen wie diesen: “Bueb, wir kön­nen nie heirat­en» oder “Lor will frei sein, will sich nicht beu­gen» oder “Und immer dieses Blau. Ein Sog, ein Rausch, eine nie gestillte Sehn­sucht. Wie wenn er einen Bergsee beschriebe, kam ihm ihr Wesen vor: ‹frisch› und ‹hell›, ihre Art ‹klar›, ihre Gestalt ‹unberührt›.

Lau­re Wyss wurde 1913 in Biel geboren, für den Vater Wern­er Wyss, er war Anwalt, Biel­er Stad­trat und Bern­er Gross­rat, war es selb­stver­ständlich, seine bei­den Töchter ins Gym­na­si­um zu schick­en. Nach der Matu­ra begann Lau­re Wyss ein Sprach­studi­um in Paris, Zürich und Berlin. Während dem Zweit­en Weltkrieg über­set­zte sie in Schwe­den Doku­mente und Schriften aus der Wider­stands­be­we­gung der skan­di­navis­chen Kirchen gegen die deutsche Besatzungs­macht und 1945 wurde Zürich ihr Wohn­sitz, wo sie als freie Jour­nal­istin arbeit­ete. Vier Jahre später war sie geschieden und allein­erziehende Mut­ter eines aussere­he­lich gezeugten Sohnes.

Den Frauen im Tram, das anlässlich des hun­dert­sten Geburt­stags der Lau­re Wyss eine Stunde durch Zürich fuhr, entsprangen leise “Ahs», als Biografin Bar­bara Kopp über die erste Aus­gabe des “Tages-Anzeiger Mag­a­zins» (heute: “Das Mag­a­zin») vor­las. Lau­re Wyss war damals, Anfang der Siebziger, prä­gende Mit­be­grün­derin dieser wöchentlichen Beilage, die Zeitung und Ver­lag “Moder­nität und inter­na­tionalen Glanz» ein­brin­gen sollte. Auf dem Cov­er dieser ersten Aus­gabe war eine Amerikaner­in zu sehen: braune Augen, viel Mas­cara und ein Helm mit der Auf­schrift “Make War Not Love». Die Leser waren entset­zt und schimpften: “Unsere Frauen sind viel char­man­ter».

Lau­re Wyss war char­mant, gewiss. Das sieht man in Inter­views, die sie dem Schweiz­er Fernse­hen gab, oder im 1999 veröf­fentlicht­en Doku­men­tarfilm “Lau­re Wyss. Ein Schreibleben». Aber Lau­re Wyss war natür­lich nicht in jen­er Art char­mant, wie das die Män­ner mein­ten, die dem “Tages-Anzeiger Mag­a­zin» Leser­briefe schrieben. Sie war eine Frau mit Herz und Kopf, sie hat­te eine Agen­da. Sie kämpfte für die Selb­st­bes­tim­mung und Gle­ich­berech­ti­gung der Frauen, gegen den Kitsch des Mut­tertags, gegen die Benachteili­gung als Mut­ter eines aussere­he­lichen Kindes und sie förderte den Nach­wuchs: Niklaus Meien­berg, Hugo Loetsch­er, Peter Bich­sel. Sie sagte immerzu: “Wider­stand ist die Pflicht jedes einzel­nen».

Lau­re Wyss war eine Medi­en­pionierin und Weg­bere­i­t­erin der heuti­gen Gesellschaft. Vor dem Tram auf dem Belle­vue­platz in Zürich standen Frauen, viele davon, ja, aber es waren Frauen mit graume­lierten, kurzen Haaren, Brillen und Foulards, die man in Muse­umsshops kaufen kann. Frauen, die 1971, als das Frauen­stimm­recht einge­führt wurde, wom­öglich dafür auf die Strasse gegan­gen sind, Frauen, die 1972, als das erste “Tages-Anzeiger Mag­a­zin» her­auskam, vor Freude kreis­cht­en, inner­lich vielle­icht nur, weil sie mein­ten, öffentlich nicht zu dür­fen. Vor dem Tram fehlte eine Kohorte, wo war sie? Wo waren die Frauen, die das Haar lang und offen, ja roten Lip­pen­s­tift und Vin­tage-Jean­s­jack­en tra­gen? Wo waren die Frauen, die Michèle Roten lesen, Ren­nvelo fahren, unver­heiratet mit ihrem Fre­und leben und ein Kind erwarten, als freis­chaf­fende Grafik­erin­nen und Fotografinnen arbeit­en? Diese Frauen fehlten, bedauer­licher­weise.

: http://www.kulturkritik.ch/2013/mit-dem-tram-entlang-der-biografie-von-laure-wyss/

Artikel online veröffentlicht: 28. Oktober 2013 – aktualisiert am 18. März 2019