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Europa am Boden und Grossbritannien unter der Erde

Von Patrik Etschmay­er — Nach dem Brex­it scheint die europäis­che Idee am Boden und der Nation­al­is­mus tri­um­phiert. Selb­st an sich vernün­ftige Men­schen kom­men­tieren diese Nieder­lage mit ein­er Mis­chung aus gehäs­siger Ver­ach­tung und der Hybris der­er, die aus rein­er Gewohn­heit nicht sehen kön­nen, was hier wom­öglich ver­loren geht. Während­dessen befind­et sich Gross­bri­tan­nien selb­st in dro­hen­der Auflö­sung.

Poli­tis­che Verbindun­gen sind frag­il. Sie beste­hen de fac­to nur aus Ideen, Absicht­en und gemein­sam gedacht­en Visio­nen. Und – ganz egal ob diese auf Papi­er fix­iert wur­den oder nicht: Mehr als diese Gedanken waren sie nie, sind sie nicht und kön­nen sie nie sein.

So ist die EU denn auch eine Idee. Genau wie Nation­al­is­mus und Uni­ver­sal­ität. Sich­er, die Idee wurde und wird durch Hand­lun­gen von Mil­lio­nen Bürg­ern europäis­ch­er Staat­en mit Leben und Real­ität erfüllt.

Ideen ster­ben, wenn nicht mehr an sie geglaubt wird. Grosse Ideen wer­den dann von Oppor­tunis­ten gekapert oder von Defätis­ten verunglimpft. Oder bei­des. Wie die EU.

Die grosse Frieden­sid­ee, welche die EWG und danach die EU verkör­perten, scheint unter­dessen in weit­en Kreisen vergessen gegan­gen zu sein. Krieg wird als Unmöglichkeit betra­chtet. Als Ding der Ver­gan­gen­heit, welch­es bei uns sicher­lich nie wiederkehren könne, denn hal­lo, man lebe ja zusam­men und treibe Han­del, sei voneinan­der abhängig.

Das stimmt alles. Doch das traf auch vor dem ersten Weltkrieg zu (ja, damals war Europa durch den Gold­stan­dard sog­ar mon­etär geeint). Sich­er, es war damals auch alles anders. Aber eigentlich schien auch damals der Krieg eine fik­tive Unmöglichkeit und gewisse Zufälle, nation­al­is­tisch-ego­is­tis­che Entschei­de und eine unglück­liche Gemen­ge­lage in den noch undemokratis­chen Regierun­gen (Aus­nahme Frankre­ich) des Kon­ti­nents führten diesen unver­mit­telt in den bluti­gen Abgrund.

Die Post-Brex­it-Sit­u­a­tion als ver­nach­läs­sig­bar abzu­tun ist genau so albern, wie sie als absolute Katas­tro­phe zu beze­ich­nen. Denn jed­er Unfall zeigt auch auf, wo die Män­gel sind. Und die EU-Führung wird nun nicht mehr die eige­nen Prob­leme schön- oder gar wegre­den kön­nen und das ist gut so. Aber auch die ver­meintlichen Gewin­ner soll­ten gut auf­passen. Denn die EU ist auch ein nationaler Einiger.

Ste­ht sie doch stets als Sün­den­bock bere­it. Egal welche Fehler von nationalen Poli­tik­ern gemacht wer­den, wenn alles erst mal den Bach runter geht, gibt es immer noch die EU, der man die Schuld geben kann (wobei deren Hauptschuld darin beste­ht, die Inte­gra­tion von Mit­gliedern, die gar nicht für Schritte wie Euro und Vollmit­glied­schaft bere­it waren, vorzunehmen).

Das Aus­bluten der spanis­chen Wirtschaft in der Folge des Immo­bilienkol­laps’ von 2007 war sowohl der Weltwirtschaft, als auch dem wilden lokalen Spekulieren geschuldet. Die Schuld wurde aber – wer würde denn eine solche Gele­gen­heit aus­lassen – in Brüs­sel verortet, als die lokal fleis­sig aufgepumpte Blase erst mal geplatzt war.

Das ging so ähn­lich auch in der Brex­it-Debat­te, wo die Män­gel im notorisch lausi­gen britis­chen Gesund­heitssys­tem (NHS) den Zahlun­gen an die EU und nicht der desas­trösen Aus­ter­itäts-Poli­tik der kon­ser­v­a­tiv­en britis­chen Regierung ange­lastet wur­den, welche die let­zten Jahre damit ver­brachte, Gesund­heit, Bil­dung und soziale Sicher­heit zu zer­stören. So würgten die Tories sowohl einen (obwohl nicht durch den Euro in der fiskalen Frei­heit eingeschränkt) möglichen Auf­schwung mit eis­ernem Sparen ab und trafen gle­ichzeit­ig die ärm­sten Regio­nen des Lan­des wo es den Bürg­ern am meis­ten weh tat, am härtesten mit dem schädlichen Sparkurs.

Aber schuld war die EU. Ja. Sich­er.

Doch nach­dem ein von Lügen gegen und halb­herzi­gen Vertei­di­gun­gen für die EU durch­zo­gen­er Abstim­mungskampf das Aus­trittsvo­tum gebracht hat, rud­ern nun sog­ar die Anführer des Brex­it-Camps zurück. Nigel Farage, eine Art Christoph Blocher mit schlechtem Zah­narzt, musste – ziem­lich verquast allerd­ings – schon am Mor­gen nach dem Sieg zugeben, gel­o­gen zu haben, was EU-Zahlun­gen und das mar­o­de Gesund­heitssys­tem ange­he. Boris John­son, der ver­mut­lich eine knappe Brex­it-Nieder­lage angestrebt hat­te, um seinen Stu­di­enkol­le­gen David Cameron zu stürzen und jet­zt mit einem Pyrrhus-Sieg kon­fron­tiert ist, find­et, ein Brex­it eile über­haupt nicht und es werde sowieso fast alles gle­ich bleiben. Wenn er so weit­er macht, wird er seine Nase als Brücke über den Ärmelka­nal leg­en kön­nen oder zumin­d­est den Spitz­nah­men Borinoc­chio bekom­men.

Doch das sind noch nicht die grössten Prob­leme des wom­öglich bald nicht mehr ‘Vere­inigten Kön­i­gre­ichs’. Schot­t­land will ein Veto gegen den Brex­it ein­le­gen oder – wenn dies nicht geht – sich von Gross­bri­tan­nien lösen, um in der EU zu verbleiben, in Nordir­land wird der Wun­sch nach einem Beitritt zur Repub­lik Irland laut. Wales, das ja für den Aus­tritt aus der EU ges­timmt hat, will in Zukun­ft jene Unter­stützun­gen, die bish­er aus Brüs­sel kamen, aus Lon­don über­wiesen haben, und das gle­iche gilt für die südlich liegende Graf­schaft Corn­wall, die auch mit gross­er Mehrheit raus wollte.

Na dann mal viel Glück mit diesem Wun­schkonz­ert.

Nein, die EU ist weit davon weg, per­fekt oder auch nur sehr gut zu sein.

Aber sie ist an und für sich O.K. und das ganze Brex­it-The­ater bietet die Möglichkeit, die Män­gel und Fehler dieses geunein­ten Europas anzuge­hen.

Denn die Tat­sache, dass in jen­em Europa, das vorher alle 30 – 40 Jahre in Blut und Trüm­mern ver­sank, seit 70 Jahren Frieden herrscht, ist von unglaublichem, nicht zulet­zt der EU zu ver­dank­enden Wert.

All jene Irren, die gar find­en, es bräuchte hier eben auch mal wieder einen Krieg, sei emp­fohlen, sich mal kurz nach Alep­po oder Fal­lud­scha aufzu­machen und dort das reini­gende Stahlge­wit­ter zu geniessen, solange sie über­leben. Das dürfte die Gier nach Tod und Zer­störung nach­haltig und endgültig kuri­eren.

Für alle anderen: Es ist nicht Zeit, das Pro­jekt Europa abzuwrack­en, son­dern dieses gegen die Nach­fol­ger jen­er Parteien, die uns vor 77 Jahren den Zweit­en Weltkrieg gebracht haben, zu vertei­di­gen und in eine bessere Zukun­ft voran zu treiben. Die Ide­olo­gie jen­er Parteien war damals eine Katas­tro­phe… und es gibt keinen Grund zu glauben, dass die gle­ichen Dummheit­en sei­ther auch nur um ein Jota klüger gewor­den sind.

Artikel online veröffentlicht: 27. Juni 2016