Von Lukas Vogelsang — Auch ich habe keine Ahnung, was die Zukunft bringen wird. Und es passt zu den momentanen Befindlichkeiten, dass auch Madame Etoile, nach 25 Jahren Zukunftsweissagungen für Radio SRF, Ende Juni aufhört. Die jüngsten Terror-Attentate haben unsere Zukunftsvisionen und Ferienpläne verändert. Wirtschaftliche Entwicklungen, wie die Folgen der «Panama Papers», hebeln angeblich funktionierende Gesellschafts-modelle aus. Religionen sind ihrem Sinn und Zweck entfremdet worden, was dem allgemeinen Wachstum der weltlichen Weisheit keinen Dienst erweist.
Technologisch bewegen wir uns in eine menschen- und kulturlose Zukunft. Sinn- und zweckentfremdet wird es in ein paar Jahren für jedes Individuum schwierig werden, seine emotionellen Welten zu verstehen oder zu reflektieren: Die virtuellen Communities sind asozial, ohne menschliche Wärme und richtigem Leben. Zwar spielt die Werbeindustrie weiterhin mit unseren letzten Emotionen – gezielt, und wir werden mehr und mehr dem Willen anderer ausgeliefert.
Ist das zu düster? Dann jetzt die gute Nachricht: Wir haben eine grosse Zukunft vor uns. Es gibt nämlich einen kapitalen Denkfehler in der Entwicklung und Planung der planetaren Entwicklung. Ausgehend davon, dass eine Idee erst im Kopf entsteht, und danach auf Papier gebracht oder real wird, haben wir uns über hunderte von Jahren eingeredet, durch Filme vorprogrammiert, durch die Wissenschaft verblenden lassen, dass jedes Ereignis auf diesem Planeten jeden Ort desselben betrifft. Also beispielsweise ein Atomkrieg auf der gesamten Erde stattfindet. Oder die Raumfahrt für alle Menschen an jedem Ort auf der Erde möglich ist. Und genau hier ist der Fehler: Es stimmt nicht. Während es in der Stadt regnet kann es ein paar Strassen daneben trocken sein. Wenn wir Nacht haben, haben andere Menschen Tag. Und während unser «Samichlous» im Winterkostüm mit klammen Fingern durch die Quartiere zieht, stehen in Mexiko die Samichläuse in der Badehose im Meer. Es gibt «den einen Zustand» nicht. Es gibt nur viele Zustände, wie Sandkörner, die durch ebenso viele Zufälle beeinflusst werden.
Sicher, der Meteoriteneinschlag hätte gravierende Folgen für alle. Aber Kriege finden nie auf allen Kontinenten statt. Unser Denkradius verläuft über Nordamerika, Europa, Russland, Asien – der arabische Raum ist in der Vision bereits kaum fassbar. Afrika können wir uns nicht vorstellen, davon haben wir kein einheitliches Bild. Australien ist weit weg, und bei Neuseeland müssen wir erst nachdenken, wo es genau liegt. Lateinamerika ist riesig – aber kaum auf einer Denklandkarte erfasst. Genauso wie es kaum möglich ist, sich eine Million als Menge vorzustellen und zu erfassen, genauso unmöglich ist es, die Erde als Ganzes wahrzunehmen. Versuchen Sie einmal, sich 7.39 Milliarden Menschen vorzustellen – oder schon nur das Vermögen von 270 Milliarden Euro der römischkatholischen Kirche in Deutschland.
Mit anderen Worten: Unsere Köpfe können nur einen Teil einer Zukunft vorhersehen und vorprogrammieren, aber diese Pläne und Vorstellungen sind schlicht zu klein, lokal, eindimensional gerichtet. Es gibt einen guten Witz dazu: Wissen Sie, wie Sie «Gott» zum Lachen bringen können? – Erzählen Sie ihm über Ihre Pläne.
Ein wirtschaftlicher Zusammenbruch betrifft also nur jene, die sich in diesem Lebens-Denkmuster bewegen, oder Hoffnungen in dieses investierten. Im Himalaya wird es wohl nicht das wichtigste Tagesthema sein. Ein Weltkrieg wird Afrika vor allem finanziell betreffen – in einigen lateinamerikanischen Ländern würde man Fussball spielen. Auch die technologische Entwicklung ist ein Witz in Anbetracht, dass es immer noch viele Orte gibt, die keinen Stroman-schluss besitzen. Und Internet ist immer noch ein Luxusgut. Selbst wenn die von uns angerichteten Umweltschäden dramatisch sind, so wird es Landflecken geben, die kaum etwas davon spüren werden.
In unserer Welt finden verschiedene zeitliche Entwicklungen statt, die nicht kompatibel mit einer allgemeinen Entwicklung einhergehen. Solche Gedankengänge finde ich phänomenal, denn sie übersteigen unsere intellektuellen Fähigkeiten weit. Vielleicht sollten wir uns wieder vermehrt auf das Leben, unsere zwischenmenschlichen und sozialen Rollen fokussieren, und uns dem Jetzt hingeben. Vielleicht können wir sodann auch jene 10% der Menschheit zurückholen, welche sich mit den 90% Weltvermögen aus dem Staub gemacht haben. Die werden dieses Geld ja selber nie ausgeben können…
Diese Verschiedenheit und diese «Unplanbarkeit» ist übrigens eines der wichtigsten und schönsten Geschenke, die uns das Leben gemacht hat. Darin findet unsere Kultur statt – deswegen möchten wir uns mit anderen austauschen, zeigen, was wir über das Leben herausgefunden haben, teilen – und mitteilen. Oft eben mit künstlerischen Elementen. Willkommen im Kulturmonat Mai. Wir leben.