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Wo beginnt das Emmental und was ist die «Berner Krankheit»?

Von Klaus Bonano­mi - Aufgewach­sen sei sie «in Meirin­gen im Emmen­tal», behauptet das Mag­a­zin über die 32-jährige Bet­ti­na, Ober­li, die «Film­regis­seurin mit Emmen­taler Wurzeln». Nun gut, das kann vorkom­men; oder wer weiss schon, ob Ster­nen­berg nun im Toggen­burg liegt oder im Zürcher Ober­land? Doch das Mag­a­zin, das neuerd­ings auch der Basler, der Solothurn­er und der Bern­er Zeitung beiliegt, hat nicht nur dieses, son­dern auch andere Fet­tnäpfchen ziel­stre­big anges­teuert und etwa den «Exil­wahlbern­er» Gui­do Min­gels eine ganze Dop­pel­seite lang über die soge­nan­nte «Bern­er Krankheit» räsonieren lassen: «In der Mün­ster­gasse stolpern die Berner­in­nen gebeugten Hauptes über die Pflaster­steine, die sie hin­dern am aufrecht­en Gang». Und zum The­ma Schwim­men in der Aare kommt Min­gels die Erken­nt­nis in den Sinn, «wer sich treiben lässt, muss nicht schwim­men. Hät­ten die Bern­er einen See, sie wür­den ertrinken.» Dann noch etwas über die Young Boys lästern und über das neue Wankdorf-Sta­dion, das aussieht wie von Anno 1958, und (fast) fer­tig ist das Bern-Bash­ing aus dem fer­nen, ras­si­gen, quick­lebendi­gen Zürich, das nicht ein­mal ein Fuss­ball­sta­dion fer­tig stellen kann für die EM 2008 und dessen noble Grasshop­pers gegen den Abstieg kick­en, während YB immer noch auf den Cup­fi­nal und einen guten Meis­ter­schaft­srang hof­fen darf und im Som­mer ins neue Sta­dion einziehen kann.

Nun haben wir es also wieder, das Mag­a­zin, nach­dem es der BZ-Chefredak­tor Andreas Z’Graggen vor sechs Jahren aus sein­er Zeitung ver­ban­nt hat­te im Glauben, es sel­ber bess­er machen zu kön­nen. «Das neue Klee-Muse­um in Bern, das wäre doch ein schönes The­ma für einen aus­führlichen Beitrag im Mag­a­zin gewe­sen. Doch die in Zürich brin­gen lieber elf Seit­en über Bruce Lee…!» sagte mir Z’Graggen damals; fürder­hin verzichtete die BZ auf das Sup­ple­ment, um am Woch­enende sel­ber eine eigene «Leben & Leute»-Beilage zu pro­duzieren (die mit­tler­weile eben­so das Zeitliche geseg­net hat wie die Kul­tur­a­gen­da, doch das wäre wiederum ein anderes The­ma…).

In Bern weinte damals nie­mand dem Mag­a­zin eine Träne nach, hat­te es sich doch unter dem dama­li­gen Chefredak­tor Roger Köp­pel endgültig vom ehe­mals fortschrit­tlichen Kurs ver­ab­schiedet und war zu ein­er Wun­dertüte im neg­a­tiv­en Sinn gewor­den anstelle der unter seinem Vorgänger René Bor­tolani gepflegten Fotografie herrschte ein wirres Illus­tra­tionskonzept, und inhaltlich war keine Rede mehr von dem aufk­lärerischen Anspruch, mit dem in den frühen Siebziger Jahren AutorIn­nen wie Lau­re Wyss, Jürg Fed­er­spiel oder Niklaus Meien­berg ange­treten waren, um dem Schweiz­er Jour­nal­is­mus mit dem Tagi-Magi eine gehörige Frischzel­lenkur zu ver­passen: Neben guten Reporta­gen und klu­gen Analy­sen las man immer mehr teils biedere, teils gesucht pro­voka­tive Texte und Kolum­nen.

Nun ist das Mag­a­zin wieder da und es ist eine Wun­dertüte geblieben; auch heute noch leis­tet sich das Mag­a­zin mal den Luxus, eine ganze Num­mer zum The­ma Luxus zu brin­gen, selb­stver­ständlich mit Dandy Dieter Meier, der dies­mal zum The­ma Polo schreiben darf; ein ander­mal ver­fol­gt man mit zunehmender Fas­sungslosigkeit einen kolum­nis­tis­chen Schlagab­tausch zwis­chen Max Küng und Chris von Rohr zum The­ma «cerve­lat­promigeil», der an Pein­lichkeit und Inhalt­slosigkeit nicht zu über­bi­eten ist. Doch ins­ge­samt ist das Mag­a­zin span­nen­der gewor­den: Da las ich in den let­zten Wochen das erste Porträt über Ralph Zloc­zow­er, das nicht vor Häme trieft; die erste ser­iöse Recherche über den Auf­stieg und Fall des Dieter Behring; ein span­nen­des Inter­view mit dem His­torik­er Tim­o­thy Gar­ton Ash über Ameri­ka und Europa oder eine Reportage über die Roma-Fam­i­lie, die in die Neg­a­tivschlagzeilen geri­et, weil sie das Zürcher Sozialamt vorüberge­hend in einem Hotel ein­quartierte: Das sind nicht nur erstk­las­sige Leses­toffe, son­dern auch unverzicht­bare Ein­blicke in andere Wel­ten, wichtige Gegen­in­for­ma­tio­nen zum üblichen Ein­er­lei.

«Wo kann ich vielschichtige Lesegeschicht­en schreiben? Wo kann ich eine Geschichte über zehn Seit­en aus­bre­it­en?» fragte der neue Mag­a­zin-Chefredak­tor Res Strehle in einem Klar­text-Inter­view, als er 2001 sein Amt antrat. Seine Antwort: Im Mag­a­zin natür­lich… «Geschicht­en, die Unter­hal­tung mit intel­li­gen­tem Infragestellen kom­binieren und per­son­al­isieren kön­nen, aber nicht bloss beim Sub­jek­tiv­en bleiben, son­dern über eine Per­son ein poli­tis­ches, soziales oder kul­turelles The­ma abhan­deln» auf diese Art wolle er mit sein­er Crew beim Tagi-Magi der Siebziger Jahre anknüpfen, ver­sprach Res Strehle. Solche Geschicht­en lese ich gerne, und dank der BZ nun auch wieder öfters.

Aus der Serie Von Men­schen und Medi­en
Car­toon: www.fauser.ch

ensuite, März 2005

Artikel online veröffentlicht: 21. Juli 2017