• zurück

Abgründe hinter Barockfassade

By Tabea Buri

In der kahlen Halle der Roten Fab­rik ste­ht eine gold­ene, üppig geschmück­te Büh­nenkulisse: Nack­te Engelkn­aben schweben über dem roten Samtvorhang und ver­gold­ete Stat­uen hal­ten Kro­n­leuchter über ihrem Haupt, um die Instal­la­tion zu beleucht­en. Im Hin­ter­grund plätschert Orch­ester­musik. Kann das der Beginn eines The­aters von Milo Rau sein? Der Bern­er Regis­seur ist bekan­nt für unz­im­per­liche Auseinan­der­set­zung mit Gewalt und hat sich schon lange von der klas­sis­chen Form des The­aters ver­ab­schiedet. Stattdessen bringt er Gerichtsvol­lzüge mit offen­em Aus­gang auf die Bühne (Moskauer Prozesse, Zürcher Prozesse) und dreht Filme über den Genozid in Ruan­da (Hate Radio). Der barocke Kitsch will hierzu nicht passen. Und doch ist er zen­tral für die Aus­sage von Raus neuster Pro­duk­tion „Civ­il Wars“.

Minia­turen Europas

Die gold­ene Bühne wird zum Anfang des Abends gedreht und offen­bart auf ihrer Rück­seite ein kleines Wohnz­im­mer, in der die inti­men Geschicht­en ganz nor­maler Men­schen lokalisiert wer­den. Es sind drei Schaus­piel­er und eine Schaus­pielerin aus Raus Gruppe IIPM (Inter­na­tion­al Insti­tute of Polit­i­cal Mur­der), die auf Flämisch und Franzö­sisch von ihren eige­nen Kind­heit­serin­nerun­gen in Europa erzählen. Dass Rau die Per­sön­lichkeit­en sein­er Darsteller zum vorder­gründi­gen The­ma ihres Auftritts macht, ist ein the­atertech­nis­ch­er Kniff, den die Truppe mit grösster Präzi­sion meis­tert. Vor allem aber liegt in diesem Kniff der tragis­che Kern des Abends.

Abwech­sel­nd erzählen alle vier von Ein­samkeit, von Unsicher­heit und vor allem – in jew­eils ander­er Form – von der Abwe­sen­heit ein­er zärtlichen Vater­fig­ur. Hin­ter der Barock­fas­sade öff­nen sich ganz nor­male famil­iäre Abgründe. Es entste­hen vier kleine Minia­turen des Lebens, die stel­lvertre­tend für die junge Gen­er­a­tion Europas ste­hen. Eines Europas, das nicht nur die Barock­musik und die klas­sis­che The­aterkun­st erfun­den hat, son­dern das in den let­zten Monat­en erken­nen musste, dass es auch islamistis­che Extrem­is­ten her­vor­bringt. Das bezeu­gen Auf­nah­men von Exeku­tio­nen in Syrien, auf denen die Milizionäre Flämisch oder britis­ches Englisch sprechen.

Kinder ihrer Zeit

Was treibt junge Män­ner dazu, den islamistis­chen Pro­pa­gan­da-Videos im Netz fol­gen, um im Mit­tleren Osten für den Dschi­had und gegen Europa zu kämpfen? Um dieser Frage nachzuge­hen, analysiert Rau nicht die Psy­cholo­gie der kämpfend­en Män­ner, son­dern legt den Fin­ger auf den Kon­text ihrer Kind­heit in Europa. Ohne viel Pathos gelingt es ihm damit, die Tragik des Krieges unerträglich eng mit dem Pub­likum zu verknüpfen: Diese europäis­chen Dschi­hadis­ten sind Kinder ihrer Zeit, genau so wie die bril­lanten Schaus­piel­er auf der Bühne der Roten Fab­rik. Es sind Kinder der­sel­ben krank­enden Gesellschaft.

Wie durch ein Mikroskop

Die vier Men­schen auf der Bühne erzählen von der psy­chis­chen Erkrankung des Vaters, vom Stre­it der Eltern in der Nacht, von Kon­flik­ten im Gotte­shaus, aber auch vom Leben als Schaus­piel­er, so etwa von ein­er kuriosen Begeg­nung mit Jean-Luc Godard oder von der Rolle als Baum. Zur Illus­tra­tion schieben sie auf dem Sofatisch Objek­te ihrer Erin­nerung in den Fokus ein­er kleinen Videokam­era, deren Auf­nah­men gross über die Wohnz­im­mer­bühne pro­jiziert wer­den: Ein Brief, ein Foto der Eltern, ein Stadt­plan. Es sind Zeug­nisse der ganz per­sön­lichen Geschicht­en, die schlussendlich in ihrer Summe die Geschichte Europas ergeben. Durch diesen leisen, mikroskopis­chen Blick ermöglicht Rau die Sicht auf das Grosse: Auf ein Europa, in dem nicht alles so gold­en glänzt wie die barocke Fas­sade.

: http://www.kulturkritik.ch/2014/theaterspektakel-milo-rau-iipm-the-civil-wars/

Artikel online veröffentlicht: 5. September 2014 – aktualisiert am 18. März 2019