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Alles Bahnhof

Von Rebec­ca Pan­ian — …oder warum ich nicht gerne im Zug fahre: Ich fahre nicht gerne Zug. Das Warum ist schnell erk­lärt: Man sitzt da, eingepfer­cht zwis­chen frem­den Men­schen. Vom natür­lich einge­forderten Sicher­heitsab­stand von cir­ca einem Meter weit und bre­it keine Spur und damit ver­gle­ich­bar unan­genehm wie Fahrstuhlfahren. Ich kön­nte noch viele Gründe anbrin­gen, die meines Eracht­ens gegen das Zug­fahren sprechen. Aber genug der hohlen Worte, wie wohl so viele mein­er zugfre­undlichen Fre­unde sagen wür­den. «Du fährst ja gar nie Zug, woher willst du es also wis­sen.» «Ein­spruch», sage ich. «Ich bin gefahren und zwar eben erst nach Luzern.» Ich wollte dem dro­hen­den Feier­abend­stau ent­ge­hen und ausser­dem dachte ich mir, dass ich bei dieser Gele­gen­heit auch gle­ich meine fest­ge­fahrene Mei­n­ung über­prüfen kön­nte – vielle­icht tat ich der SBB und ihren treuen Anhängern ja wirk­lich Unrecht?! So set­zte ich mich in den Zug…

Manch­mal… Die Hin­fahrt ging ja eigentlich noch. Ich hörte in Ruhe Musik und genoss entspan­nt und (fast) ungestört den Anblick des vor­bei­fliegen­den Zugersees. Wun­der­schön, das gebe ich hier gerne zu. Sog­ar schriftlich.

Aber dann kam die Rück­fahrt: 22.35 Uhr, von Luzern nach Zürich. Ich set­zte mich zu ein­er Dame in Schwarz. Sie sass ruhig da und weck­te in mir die Hoff­nung auf eine ungestörte Fahrt. Doch weit gefehlt. Kaum geset­zt, erhielt sie einen Anruf (wohl von ein­er Fre­undin) und referierte bis kurz vor Ein­fahrt Zürich über das Beziehungs­dra­ma ein­er anderen Fre­undin. Der Ehe­mann der Fre­undin — also nicht die am anderen Ende der Leitung, son­dern die andere — hat­te wohl die Frech­heit besessen, sog­ar während der gemein­samen Paarther­a­pie eine Affäre zu haben. Ich wollte nicht zuhören. Aber ich kon­nte gar nicht anders. So ging das, bis ich ein­nick­te — ver­mut­lich aus lauter Verzwei­flung. Dann endlich, die befreiende Durch­sage: «Zürich Haupt­bahn­hof – End­sta­tion.»

…bestäti­gen sich… Halb eins in der Früh. Mir graute schon zu Beginn mein­er Zugreise vor der nächtlichen Ankun­ft im Zürcher Haupt­bahn­hof. Für alle Fälle hat­te ich mein Tep­pichmess­er eingepackt. Ja wirk­lich. Vielle­icht bin ich übersen­si­bel und über­vor­sichtig, aber wie son­st sollte ich mich im Not­fall wehren kön­nen? Spätestens seit einem Über­griff in Kuba war mir wieder klar, dass ich als Frau ziem­lich sich­er den Kürz­eren ziehen würde, wenn es denn hart auf hart kom­men würde. Schon allein der wohlige Griff um das längliche Mess­er ver­lieh mir eine gewisse Sicher­heit, mit der es sich bess­er durch die nahezu leere Bahn­hof­shalle gehen liess. Und was soll ich sagen? Tat­säch­lich näherte sich ein junger Bursche mit Base­ballmütze und einem unver­schämt selb­st­sicheren Grin­sen. Meine Hand umk­lam­merte den Cut­ter. Würde mir jemand zu Hil­fe eilen, wenn sich dieser Halb­starke etwas erlauben würde? Ver­mut­lich nicht. Ich beschränk­te mich fürs Erste darauf, mir den «Um-einen-Kopf-Kürz­eren» mit meinem alles bezwin­gen­den «Bleib-mir-bloss-vom-Hals»-Blick vom Leib zu hal­ten. Es wirk­te – zum Glück. Mein Puls raste. Meinen Messer­griff löste ich nur zöger­lich.

…lei­der auch… Dann direkt die näch­ste Pleite: Auf der grossen Anzeigetafel stand neben «meinem» Zug der Ver­merk «mit Zuschlag». Auch das noch. Grandios. Und wo krieg ich den her oder bess­er, wo muss ich ihn bezahlen? Fleis­sige Zug­fahrer wer­den an dieser Stelle wohl ihre Augen ver­drehen. Aber ein Bahn­laie wie ich es bin ist in einem solchen Moment aufgeschmis­sen. An dieser Stelle ein klein­er Hin­weis an die SBB: Wenn ihr schon einen solch bescheuerten «Nacht-Zuschlag» ver­rech­nen wollt, dann bitte seid zumin­d­est so gut und sorgt dafür, dass man nicht stun­den­lang suchen muss, bis man die entsprechende Taste find­et, ok? Denn der Code, den man dafür eingeben muss (*162, wenn ich mich recht erin­nere), ste­ht irgend­wo im unteren Bere­ich des Auto­mat­en geschrieben, auf einem Minitäfelchen. Ich möchte hier das Wort «ver­steckt» ver­mei­den.

…einige Vorurteile. Im Zug nach Win­terthur ver­suchte ich die Fahrgäste in den Abteilen genau zu mustern. Gefahr oder nicht Gefahr? In einem ver­meintlich «sicheren» Abteil nahm ich schliesslich Platz. Sich­er deswe­gen, weil dort zwei nor­mal wirk­ende Mädels und ein Typ im Anzug sassen. Er las in ein­er Zeitung und die Mädels quatscht­en. Also keine offen­sichtlich Ver­rück­ten oder Betrunk­e­nen oder Viel­tele­fonieren­den anwe­send. Aber aufgepasst: What you see is not always what you get. So auch in diesem Fall. Denn kaum hat­te der Zug einige hun­dert Meter sein­er Strecke zurück­gelegt, führte der ser­iös wirk­ende Anzug­typ mir gegenüber plöt­zlich ganz langsam seinen aus­gestreck­ten, ziem­lich lan­gen Fin­ger in Rich­tung Nase. Meine Augen fol­gten sein­er Hand. Ich dachte noch bei mir: Der wird doch jet­zt nicht etwa… aber bevor ich meinen Gedanken zu Ende denken kon­nte, steck­te sein Fin­ger auch schon in seinem über­grossen recht­en Nasen­loch. Er bohrte und bohrte und drehte und grü­belte. Ich kon­nte meinen Blick nicht von ihm abwen­den. Glauben Sie mir, ich habe es ver­sucht. Und dann, es kann kaum schlim­mer kom­men, wan­derte der Bohrfin­ger einige Zen­time­ter runter in Rich­tung Mund. Dieser öffnete sich bere­itwillig und lud den Bohrfin­ger dazu ein, seine her­rliche Fracht abzu­laden. Eigentlich bewun­derte ich ihn auf angeekelte Art und Weise für seine Unver­froren­heit. Nichts hielt ihn davon ab, sich bei seinem Rit­u­al stören zu lassen. Übri­gens, er tat es mehrfach… Das Schlimm­ste aber war, dass ich plöt­zlich lachen musste, wohl vor lauter Ekel und Erstaunen. Und ich kon­nte nicht mehr aufhören damit. Gewun­dert hat mich eigentlich in dem Augen­blick, dass mich kein­er mein­er Mitreisenden schräg anschaute. Anscheinend herrscht während ein­er nächtlichen Zug­fahrt Nar­ren­frei­heit. Kein­er beachtet den anderen.

Als ich nach Hause kam, war ich vol­lkom­men gerädert. Dabei wollte ich doch nur dem Stau ent­fliehen! Das hab ich nun davon: Das auf immer und ewig in mein Gedächt­nis einge­bran­nte Bild eines Extrem­nasen­bohrers und den Hang zum Waf­fen­tra­gen. Danke dafür, liebe SBB.

ensuite, Mai 2009

Artikel online veröffentlicht: 16. August 2018