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Bauchtraining

Von Bar­bara Roel­li — Annette wollte das alles gar nicht. Sie hat auch nicht gedacht, dass es über­haupt so weit kom­men würde. Die Moti­va­tion war sim­pel: Ihr bester Fre­und Oliv­er überre­dete sie dazu, noch kurz ein Bier mit ihm zu trinken. An einem Fre­itagabend, an dem nichts lief in der Stadt. Annette war ziem­lich müde. Aber sie kon­nte Oliv­er nicht abwim­meln. Er murmelte etwas von «er füh­le sich nicht so beson­ders». Sie wusste, was das zu bedeuten hat­te: Es ging wieder ein­mal um seine Fre­undin. Somit war klar, dass sie in dem Moment für ihn da war. Sie betrat also jene Bar. Oliv­er sass bere­its am Tre­sen, völ­lig einge­sackt. Annette schritt auf ihn zu und nahm ihn in die Arme. Da ent­deck­te sie seine roten, geschwol­lenen Augen. «Erzähl jet­zt – was ist los mir dir?», fragte sie fordernd, bestellte zwei Bier und set­zte sich neben ihn.

Er weinte erneut und sie tröstete ihn. Sie bestell­ten ein weit­eres Bier und tranken auf eine neue, schönere Liebe. Auf die Liebe des Lebens. Er spülte sich seinen Liebeskum­mer vom Herzen und sie trank mit. Im schumm­ri­gen Bar­licht leuchtete das Bier wie Gold und die Gläs­er füll­ten sich wie von selb­st. Das Bier rann kühl ihre Kehle hin­unter und mit jedem Schluck kam Annette Oliv­ers See­len­lage näher. Sie kon­nte sich noch bess­er ein­fühlen. Sollte sich diese blöde Tusse doch mit ihrem Ex ein schönes Leben machen. Aber nicht mit ihrem besten Fre­und — Oliv­er ver­di­ente etwas besseres. Irgend­wann wech­sel­ten sie von Bier auf Gin Ton­ic, ihren per­sön­lichen Favoriten fürs Nachtleben. Weil er so belebend wirkt und sie den Wach­hold­ergeschmack so mag. Sie hin­gen dort am Tre­sen, leerten einen Gin nach dem andern, und bestätigten sich gegen­seit­ig, dass man eben nur auf echte Fre­unde wirk­lich zählen kann.

Und dann? Film­riss. Annette begin­nt nachzu­denken, hört aber wieder auf. Zu fest schmerzt ihr der Kopf. Nicht mal die Augen mag sie auf­machen. Ihr Kör­p­er ist aus­ge­laugt, wie ein aus­ge­drück­ter Waschlap­pen. Sie krümmt sich noch mehr in die Embryo-Stel­lung und ver­sucht weit­er zu schlafen. Aber es geht nicht. Ihr Magen gibt bedrohliche, beina­he schmatzende Geräusche von sich und plöt­zlich fängt ihr Herz wie wild zu pochen an. Annettes Organe rebel­lieren. Sie sind nicht mehr zu besän­fti­gen. Wie von der Taran­tel gestochen springt Annette aus dem Bett ins Bad, reisst den WC-Deck­el hoch und übergibt sich in hohem Bogen. Wie sie das has­st! Wie kon­nte ich nur so dumm sein? Bin ich nicht langsam zu alt dafür? Ich schwöre, dies war das let­zte Mal… Immer der­selbe Gedanken­gang. Sie beugt sich über die Klo-Schüs­sel. Wie ein röhren­der Hirsch tönen die Laute, die sie von sich gibt. Sie brüllt in das Loch, in dem son­st all die men­schlichen Abfall-Pro­duk­te gespült wer­den. Kein Wun­der — bei diesem Mix aus Bier und Gin, das musste ja so kom­men.

Wie ist sie über­haupt nach Hause gekom­men? War da ein Taxi? Sie wird dem Fahrer doch nicht die Sitze ruiniert haben… Annette kann sich noch so anstren­gen — zwis­chen dem nächtlichen Bar-Besuch und der Ankun­ft in ihrer Woh­nung klafft eine Lücke. Langsam steigt ihr der typ­is­che, bit­ter-säuer­liche Geruch in die Nase. Sie übergibt sich erneut. Fühlt sich elend und dem, was mit ihr passiert, hil­f­los aus­geliefert. Ihr Rachen bren­nt, denn etwas anderes als Galle gibt ihr Magen nicht mehr her. Irgend­wann bleibt sie erschöpft am Boden sitzen. Denkt an die knapp volljähri­gen Jugendlichen im Aus­gang, die ihren Alko­holkon­sum nicht im Griff haben und daran, dass sie diese immer belächelt hat­te.

Aufgestützt am Bade­wan­nen­rand kommt Annette schliesslich wieder auf die Beine. Ihr Abbild im Spiegel ist gnaden­los: Ble­ich­er Teint, fet­tige Haut, Augen­ringe, wirres Haar. Der Sturm im Kopf weht noch immer. Im Mor­gen­rock schlurft sie in die Küche und sucht nach den Haus­mit­telchen. Seit sie von zu Hause aus­ge­zo­gen ist, hat sie diese stets auf Vor­rat: Schwarz­tee und Zwieback. Und zum Glück – eine Banane ist auch da. Vor­sichtig nippt sie am heis­sen Tee. Aber die Banane bleibt so unan­genehm am Gau­men kleben, dass sie mit Essen aufhört. Sie löst das Schmerzmit­tel in Wass­er auf und leert das Glas auf Ex. Und auf ein­mal kommt die Erin­nerung zurück: Haben sie und Oliv­er gestern nicht noch Tequi­la Shots getrunk­en? Und dann zusam­men getanzt… zu diesem Achziger­jahre-Schnulz? Annette spürt, wie ihr kalter Schweiss den Rück­en hin­un­ter­fliesst. Sie hält die Luft an und schle­icht zum Schlafz­im­mer. Ihr Puls wird schneller. Hat sie tat­säch­lich ihre Fre­und­schaft aufs Spiel geset­zt? Vor­sichtig schielt sie durch den Türspalt… Ihr Bett ist leer. An den Tür­rah­men gelehnt atmet sie erle­ichtert auf. Langsam kriegt Annette wieder einen klaren Kopf. Ihr Magen schweigt. Was zurück­bleibt ist das Gefühl am Mor­gen danach.

Foto: Bar­bara Roel­li
ensuite, Mai 2009

Artikel online veröffentlicht: 15. August 2018