Von Vesna Mlakar — Vladimir Malakhov huldigt in La Péri blosser Formschönheit und vernachlässigt den dramatischen Gehalt der (Ballett-)Romantik.
Nirgends fühlt Vladimir Malakhov sich so daheim wie im romantisch-klassischen Repertoire. Seit seinem vierten Lebensjahr wurde er an der Ballettschule in seiner Heimatstadt Kriwoi Rog und ab 1978 an der Moskauer Bolschoi-Ballettschule dafür ausgebildet. Trotz international herausragender Erfolge auch in Werken führender Choreografen des 20. und 21. Jahrhunderts zieht es den russischen Starballerino immer wieder dorthin zurück. Die Neukreation des zu seiner Zeit ausgesprochen populären, später in Vergessenheit geratenen Balletts La Péri war deshalb ein lang gehegter Wunsch. Erste Erfahrungen mit derartigen «Ausgrabungen», die mangels Niederschrift der originalen Tanzbewegungen nur anhand sekundärer Quellen erfolgen können, sammelte er bereits vor 24 Jahren – ganz am Anfang seiner Karriere: Damals, 1986, wagte der Franzose Pierre Lacotte für das Moskauer Klassische Ballett – mit Malakhov als frisch engagiertem Solisten in der männlichen Hauptrolle – ein Revival des vorromantischen Zweiakters «Nathalie, ou La Laitière Suisse» [Das Schweizer Milchmädchen] (Uraufführung: 1821, Choreografie: Filippo Taglioni).
Beim Erarbeiten seiner Neufassung von La Péri für das Staatsballett Berlin wählte Vladimir Malakhov einen sehr persönlichen, emotionalen Zugang. Zentrales Thema der Romantik, die im Ballett ab 1832 mit der Uraufführung von Taglionis La Sylphide die Vorherrschaft übersinnlicher Geisterwesen etablierte, war ja die Übertragung von in der Realität nicht lösbaren Widersprüchen in eine Traumwelt. Ebendieser Goût nach Weltfremde und versponnenen Befindlichkeiten zeichnet La Péri aus. Ganz im Vertrauen auf seine Intuition wurden Mala-
khov vor allem die Impulse aus der überlieferten Partitur des Komponisten Friedrich Burgmüller (eingerichtet und arrangiert von Roland Bittmann und Torsten Schlarbaum) zum Leitfaden. Ausserdem wollte er auf den Part des Prinzen natürlich nicht verzichten.
Intendant, Choreograf und Erster Solist in Personalunion, schneiderte er sich aus der ballettgeschichtlichen Versenkung die Rolle des orientalen Achmed zurecht und aus bewährten Versatzstücken (Soli, Pas de deux, Trio, Gruppenformationen) mit in Bewegung umgesetzten Impressionen lithografischer Dokumente einen formverspielten Abendfüller, der in seiner simpel gestrickten Opulenz, zahlreichen Anzitaten auf malerische Posen und stetig aufeinanderfolgenden Divertissements immerhin lieblich anzusehen war. Den heftigsten Zwischen-applaus gab es für das lebhafte Männertrio von Alexander Korn, Rainer Krenstetter und Dinu Tamazlacaru im zweiten Akt.
Mit seinen mittlerweile 42 Jahren steht Vladimir Malakhov allerdings an einem Wendepunkt seiner künstlerischen Laufbahn. Noch ist sie zwar da, die überragende Präzision – doch unaufhaltsam schleichen sich winzige Ermüdungserscheinungen, Anzeichen von Anstrengung und Schwächen in Sprungkraft, Elastizität und Kondition ein. Malakhov kennt seinen Körper – und weiss darum. Choreografisch weicht er deshalb geschickt in kleinteilige, fast schon feminin anmutende Variationen aus, die er mit viel pantomimischer Gestik und wenigen, wohlgesetzten Sprüngen garniert. Dieser nachvollziehbare Coup aber verleiht seinem Achmed die Züge eines Phlegmatikers, der weniger durch (getanztes) Handeln denn als technisch versierter Partner in – zugegebenermassen sehr ansprechendem – Pas de deux vor allem mit der zerbrechlich-bezaubernden Diana Vishneva (als Gast) in der Titelpartie überzeugt.
Seine Uraufführung hatte das von Théophile Gauthier zwei Jahre nach Giselle für Carlotta Grisi geschaffene Ballett – leicht verworren angesiedelt im Spannungsfeld irdischer Überdrüssigkeit und himmlischer Idealität – 1843 in Paris erlebt. Während Jordi Roig sich für seine historisierende Ausstattung (Kerker, Haremspalast, Paradiesgarten) über grafisches Quellenmaterial hinaus am Libretto der Urfassung orientierte, verunklärte Malakhov durch massive Vereinfachungen und Kargheit der inhaltlichen Substanz die dramatisch aufgeladene Vorlage um Achmeds Liebe zu La Péri, einem persischen Feenwesen. In der Konsequenz kamen darstellerische Expressivität und Wandelbarkeit – zwei gerade in der Romantik über die technische Leichtigkeit hinaus hoch geschätzte Qualitäten – zu kurz.
Ungeachtet aller Bemühungen des untergebenen Freundes Roucem (sprung- und drehsicherer Premiereneinspringer: Arshak Ghalumyan) vermögen weder muntere Musikanten mit Lauten noch grazil die Arme und Hüften schwingende Odalisken Achmeds Trübsal zu vertreiben. Sogar seiner resoluten, langbeinigen und feurigen Favoritin Nourmahal (Blickfang des Abends: Beatrice Knop) sowie vier leichtfüssigen Prinzessinnen aus Schottland (Elena Pris), Spanien (Elisa Carrillo Cabrera), Frankreich (Corinne Verdeil) und Deutschland (Gaela Pujol) zieht er die Opiumpfeife vor. Bringt sie ihn doch, zumindest im Rauschtraum, näher zu der sehnsuchtsvoll Geliebten.
Warum diese in die Kleider einer flüchtigen und darum getöteten Lieblingssklavin des Paschas mit Namen Leila schlüpft, um Achmeds Standhaftigkeit auf die Probe zu stellen, blieb mangels choreografischer Deutlichkeit ebenso im Unklaren wie Achmeds auf dem Identitätsklau der Péri beruhende Verurteilung zum Tod. Vielmehr erschöpfte sich Malakhovs Interpretation in einem Heer dekorativ eingesetzter, virtuos-filigran tanzender Péris und einem meist zur Staffage heruntergebrochenen Einsatz des Corps des ballet. Sein Fokus ist Achmeds Spleen, nur mit La Péri Erfüllung zu finden – und sei es im Jenseits einer licht- und nebeldurchfluteten «Zuckerguss-Apotheose».
Jubel unter den Premierenfans an der Staatsoper «Unter den Linden» am 27. Februar 2010 gab es dennoch reichlich und einen veritablen Tulpenregen für die St. Petersburger Gastballerina Diana Vishneva. An ihrer eleganten, wenngleich glatten Interpretation müssen sich in den folgenden Vorstellungen die Japanerin Shoko Nakamura aus dem hauseigenen Berliner Ensemble (mit Partner Mikhail Kaniskin) und Iana Salenko (Erste Solotänzerin des Staatsballetts Berlin) an der Seite von Marian Walter messen lassen. Salenko übrigens wurde zeitgleich zur Premiere bei einer festlichen Gala in Essen mit dem Deutschen Tanzpreis «Zukunft» 2010 ausgezeichnet.
Foto: Enrico Nawrath
ensuite, April 2010