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«Corpus delicti» von Juli Zeh am Luzerner Theater

Von Gar­biela Wild — Juli Zehs Neg­a­tiv-Utopie ist in der Mitte des 21. Jahrhun­derts ange­siedelt. Die zukün­ftige Gesellschaft gehorcht einzig und allein der Ver­nun­ft und hat sich von der Abhängigkeit des Mark­tes und den Fän­gen der Reli­gion befre­it. Ober­stes staatlich­es Prinzip ist ein von Krankheit und Schmerz befre­ites Leben. Diese Maxime fordert von jedem einzel­nen Bürg­er die strik­te Ein­hal­tung eines staatlich verord­neten Gesund­heit­spro­grammes, welch­es neben Fit­nesspro­gramm regelmäs­sige Abgabe von Blutwerten und Ernährungs­bericht­en bein­hal­tet. Miss­brauch tox­is­ch­er Sub­stanzen wie Nikotin und Kof­fein wird strafrechtlich ver­fol­gt. Zeh skizziert ein total­itäres Sys­tem à la «1984» oder «Fahren­heit 451» mit rhetorischen Mit­teln, die sie gut beherrscht, und lässt ihre Fig­uren sprachdichte Argu­men­ta­tions­du­elle aus­fecht­en oder plaka­tive Plä­doy­ers hal­ten. So predigt Chefide­ologe Kramer (Gunter Heun): «Ein Blick in die Geschichts­büch­er zeigt, was es bedeutet, wenn Men­schen ver­liebt in ihre Krankheit­en sind. Jed­er klagte über Heuschnupfen, Rück­en­schmerzen und Ver­dau­ung­sprob­leme und wollte dabei immer nur eines: Die niedrig­ste Form von unver­di­en­ter Aufmerk­samkeit. Das störungs­freie, fehler­lose Funk­tion­ieren, nichts anderes taugt zum Ide­al. Das ist die Essenz.» Gesund­heit als Prinzip staatlich­er Legit­i­ma­tion ist ein Schlüs­sel­w­erk der herrschen­den Lehre.

Mia Holl (Julie Bräun­ing), eine erfol­gre­iche Natur­wis­senschaft­lerin, war bis anhin eine treue Ver­fech­terin des Sys­tems «Essenz». Durch den Tod ihres Brud­ers wird sie aus der Bahn gewor­fen und ver­nach­läs­sigt ihre Bürg­erpflicht­en zu Hygiene und Gesund­heitsvor­sorge. Immer mehr ist sie davon überzeugt, dass das Sys­tem für den Tod ihres Brud­ers ver­ant­wortlich ist. Als die Essenz eine medi­en­wirk­same Ver­leum­dungskam­pagne startet, um einen Jus­tizir­rtum zu kaschieren, wird aus Mias Fall ein mod­ern­er Hex­en­prozess. «Das Mit­te­lal­ter ist keine Epoche, son­dern der Name der men­schlichen Natur.» (Mia)

Filmemach­er Samir insze­nierte «Cor­pus Delic­ti» für das Luzern­er The­ater. Das bewusst reduzierte Büh­nen­bild (Wern­er Hut­ter­li) mag seine Berech­ti­gung in der Begrün­dung, dem Zuschauer Raum für die eigene Phan­tasie zu lassen, find­en. Das als Hin­ter­grund dienende Stadt­bild von Luzern aus dem Zeital­ter des Dia­vor­trags sowie die laien­haften Video­pro­jek­tio­nen wirken allerd­ings etwas befremdlich. Wirk­lich störend sind aber die schlecht chore­ografierten Bewe­gun­gen der Schaus­piel­er. Das unmo­tivierte Herum­laufen auf der Bühne ste­ht im krassen Gegen­satz zu den kom­plex­en Tex­ten, die die Schaus­piel­er in atem­ber­auben­dem Tem­po (fehler­frei) herun­ter­ras­seln. Und weshalb, um Gottes Willen, muss die «ide­ale Geliebte» (Daniela Britt) – ein Phan­tasiege­bilde in Mias Kopf – ständig um die Haupt­darstel­lerin herumhüpfen und sich dabei wie in einem Schulthe­ater auf­führen? Hier wäre etwas mehr Zutrauen an die Vorstel­lungskraft des Zuschauers hil­fre­ich gewe­sen. Eine dezente Stimme aus dem Off hätte mit Sicher­heit mehr Effekt erzielt. Die Tanzein­lage (Mar­ta Zol­let, Chore­ografie Ver­e­na Weiss), die Mias seel­is­che Not aus­drückt, wirkt beim ersten Mal ergreifend. Die Tänz­erin ren­nt gegen eine Plex­i­glaswand an und ver­schmiert sie allmäh­lich mit Blut. Beim drit­ten Mal hat sich die Idee jedoch erschöpft und nervt nur noch. Ver­hauen ist lei­der auch der Schluss. Das im Buch verblüf­fende Ende, das aus Mia nicht die erwartete Mär­tyrerin macht, kommt im Stück schle­ichend lahm daher. «Gehen Sie nach Hause, Frau Holl», meint Kramer, macht eine müde abwink­ende Geste und trot­tet von der Bühne. Die zum Ein­frieren verurteilte Mia schre­it: «Das kön­nt ihr nicht machen! Ihr schuldet mir das!» Dann befre­it sie sich aus ihren Fes­seln. «Das Stück ist fer­tig. Sie dür­fen klatschen», scheint diese Geste zu sagen. Nichts­destotrotz sei die schaus­pielerische Leis­tung der Haupt­darsteller gewürdigt. Mia (Julie Bräun­ing), Kramer (Gunter Heun) und Rosen­treter (Jörg Dathe) glänzen mit her­vor­ra­gen­den Textvorträ­gen und zeigen, was das Stück «Cor­pus Delic­ti» ist: Eine spritzige The­sen­schlacht um die Frage, was das einzelne Indi­vidu­um dem kollek­tiv­en Ganzen schuldig ist. Juli Zeh plädiert für ein Recht auf Krankheit und Selb­stzer­störung. Denn das Leben ist ein Ange­bot, das man auch ablehnen kann.

Cor­pus Delic­ti ist noch bis zum 12. Juni am The­ater Luzern zu sehen. Info: www.luzerner-theater.ch

Zeh, Juli: Cor­pus Delic­ti. Ein Prozess. Schöf­fling & Co. Ver­lag, Frank­furt am Main, 2009.

ensuite, Juni/Juli 2009

Artikel online veröffentlicht: 19. August 2018