Von Barbara Roelli — Drei Monate vielleicht? Ich weiss nicht, wie lange das Loch schon da ist. Das Loch in meinem Mund, im zweithintersten Zahn in der unteren rechten Zahnreihe. Irgendwann muss die Füllung des Zahns heraus gefallen sein. Unbemerkt, vielleicht beim Zähneputzen und Zahnpasta ausspucken – um für immer zu verschwinden im Abfluss des Lavabos. Seit der Zahn keine Füllung mehr hat, irritiert er mich. Dieser Hohlraum wird beim Essen zum Mülldepot, das alles aufnimmt, was körnig, kernig und klebrig ist. Und beim Kauen werden die Speisereste erst recht noch in den Hohlraum gedrückt, so dass ich nach dem Essen vor dem Spiegel stehe mit einem Brush-Stick, einem spitzigen Plastikstäbli in der Hand, und im Loch herum grüble, bis der Hohlraum wieder leer ist. Das Loch in meinem Mund spielt nicht nur nach, sondern auch vor dem Essen eine Rolle. So überprüfe ich, was ich esse: Bedenkenlos ist etwa ein Joghurt ohne Fruchtstücke – da bleibt nichts hängen. Problematischer ist ein Stück Brot. Davon verfängt sich immer ein Teilchen Teig im Loch, allerdings lässt sich dieses durch stochern mit der Zungenspitze entfernen. Wirklich behindernd hingegen sind alle Arten von Kernen und Nüssen. Wenn ich auf solche beisse, dann füllt sich das Loch sofort mit dieser Kernen- und Nussmasse, und diese ist nur mittels langem Grübeln zu entfernen. Besonders mühsam sind die kleinen schwarzen Kerne der Kiwi.
Auch meine Zunge grübelt dauernd an diesem Loch herum. Eigentlich sollte ich zum Zahnarzt. Erinnere ich mich aber an früher, so kriege ich Hühnerhaut und denke an Minuten der Angst auf dem Behandlungsstuhl einer Zahnarztpraxis. Eine grelle Lampe blendet mir in die Augen, irgendein Schlauch saugt meinen Speichel ab, während der Zahnarzt mit einem surrenden Gerät um die Nerven meiner Zähne kreist – ein Schmerz, der mich immer daran erinnern wird, dass Zähne auch leben. Ich schiebe den Zahnarztbesuch also vor mir her bis zu dem Tag, als mich eine Bekannte darauf hinweist, dass sich ein solches Loch entzünden kann, dass dann eine Zahnwurzelbehandlung nötig wird, und diese schweineteuer werden könnte; so mehrere tausend Franken. Von diesem Szenario mit dicker Backe und fetter Rechnung aufgeschreckt, nehme ich den schnellstmöglichen Termin beim Zahnarzt an.
Als ich die Praxis betrete werde ich mit einem strahlend weissen Lächeln empfangen. Im Hintergrund werden Schubladen geöffnet, ich höre das Klappern der Metallinstrumente und sehe sie schon vor mir; mit ihren spitzigen Enden, abgewinkelt oder zum Hacken gebogen. Ich werde ins Behandlungszimmer gebeten und lege mich mit weichen Knien auf den Behandlungsstuhl. Es riecht sauber, keimfrei. Dann kommt der Zahnarzt. Ein Mann so Ende fünfzig. Graues, etwas längeres Haar, freundliche braune Augen, eine wohlwollende Art. Er stellt mir einige Fragen zur Gesundheit und beginnt dann, zusammen mit der Zahnarztgehilfin, mit der Untersuchung: Ich sehe zwei Paar Augen die meine Zähne erforschen, und spüre mit Silikon bekleidete Hände in meinem Mund. Dann kommt der Eisstab zum Einsatz. Der Zahnarzt berührt damit jeden einzelnen Zahn um festzu-stellen, ob sie alle noch leben. Ich spüre ihre Nerven und unter altbekanntem Schmerz versuche ich, ruhig zu atmen, an etwas erfreuliches zu denken: Schön, dass meine Zähne leben! Aber was ist mit dem Loch? «Das ist nicht so tragisch», sagt der Zahnarzt: «das füllen wir einfach wieder». Dafür hat der Schmerz doch gelohnt: Die Grüblerei hat endlich ein Ende.
Foto: Barbara Roelli
ensuite, Februar 2011