Von Fabienne Naegeli – Best Practice liefert «Life under Construction»: Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Entscheidung! Mit dem Kauf einer unserer Identitäten haben Sie sich für breite Funktionalität, grosse Variabilität, ein preiswertes Programm und einen hohen Qualitätsstandard entschieden. Lesen Sie bitte vor dem Aufbau Ihres Ichs diese Montageanleitung durch. Sie enthält wichtige Informationen für eine fachgerechte Bedienung, die unbedingt beachtet werden müssen. Garantieleistungen gewähren wir nur bei Ausführung durch qualifiziertes Personal mit entsprechendem Werkzeug, sowie bei zulässigem Einsatz des Lebens. Auf Wunsch ist eine Lieferung weiterer Einzelteile möglich. Wir beraten Sie gerne individuell für Ihren Charakter-Bedarf.
Für fast alles gibt es Gebrauchsanweisungen, Handbücher, Leitfäden und Ratgeber, die einem in einigen wenigen Schritten mit zahlreichen Tipps & Tricks, Strategien und hilfreichen Konstruktionsplänen erklären, wie man etwas zusammenbauen oder bedienen muss, damit es funktioniert, und was man zu beachten hat, um seine eigene Sicherheit dabei nicht zu gefährden. Doch ein Leben nach perfekt vorgefertigtem Muster wie der Bauanleitung eines Ikea-Regals – gibt es das? Das Theater- und Kunstkollektiv Best Practice thematisiert in ihrem ersten gemeinsamen Stück «Life under Construction» solch ideale Lebenspläne und deren (Un-) Möglichkeiten. Beim Dreh eines Werbefilms für eine Lebensversicherung lassen sie hinter die Kulissen dieser Scheinwelt mit ihren modellhaften Charakteren blicken. Die Regie- und Produktionsleiterin mit ihrem Funkgerät hat Kommunikationsschwierigkeiten, und ist über das langsame Voranschreiten der Low-Budget-Produktion genervt. Die Statisten werden angehalten ihre Sitzplätze zu wechseln, da sie ansonsten im Bild erscheinen. Der Kameramann schraubt noch an der Technik herum, und auf dem armseligen Set, bestehend aus billigen Pappe-Wänden, wärmt sich der in Hemd und Krawatte gekleidete Schauspieler Zigaretten rauchend auf. Er, eigentlich ein erfolgreicher, gesunder, von sich überzeugter Künstler mit Dauerlächeln im Gesicht, der glaubt ein originelles, selbstbestimmtes Leben zu führen, bricht bei den Dreharbeiten unerwartet zusammen und versinkt in seine eigene Welt. Vorsichtig, voller Neugierde, und verwundert über sich und das ihm Begegnende tastet er sich unter den fremden, unsicheren Umständen vorwärts. Geleitet von Klängen und dem sich permanent verändernden Raum begibt er sich in dieser anderen Realität mit ihren verschrobenen Perspektiven auf die Suche nach seiner Ich-Identität. Der von Konventionen, Regeln und Gesetzen geprägte Alltag weit entfernt, nur noch in der Erinnerung, muss er sich den grossen Fragen des Lebens stellen. Wie ist die Welt entstanden? Welche Meinung habe ich zu Religion? Gibt sie mir Halt und kann ich sie ernst nehmen, oder entsprechen mir doch eher Yoga, Feng Shui, Zen und die Lebensweisheiten meines Personal Lifestyle-Coaches und Motivationstrainers? Was macht für mich Glück aus? Welches sind meine Bedürfnisse, Wünsche und Visionen? Kann ich meine Identität anders als mit Konsum ausdrücken, respektive, was bleibt am Schluss von meinem Ich übrig, wenn mein iPad und meine Nespresso-Maschine weg sind? Vielleicht die Liebe – oder doch nicht? Das Vordringen des Schauspielers in seiner Eigenwelt, das Entdecken wie auch Ausprobieren der Konstruktion seines Selbst wird durch das ständige Abbauen, Neukonstruieren, Bemalen, Zusammenschweissen, Zerlegen und Umwandeln der Bühne visualisiert. Ein Lebensplan wird als unbrauchbar verworfen, ein neuer wird gestrickt, der schlussendlich auch nicht aufgeht, der Schauspieler hadert, pickt den nächsten heraus, befolgt ihn, scheitert wieder. Durch diese permanenten Anläufe entstehen immer neue, oft Fragment bleibende Bilder, welche die Musik aus Geräuschen, Keyboard, Harfenklängen, Samples und elektronischen Sounds untermalt, oder denen sie Themen entgegensetzt und neue Impulse gibt. Während der Proben zu «Life under Construction» brachte jeder der Künstler von Best Practice aus seinem Bereich Materialien und Ideen mit. Gemeinsam bastelte man an den Versuchsmomenten und verflocht Kunstformen sowie Medien zu einem stillen, melancholisch-ironischen Abend mit ein paar kurzen, lauten Höhepunkten, der, so Andrea Brunner, die Musikerin von Best Practice, den «Charakter einer Jam-Session» hat.
Foto: zVg.
ensuite, November 2011