Von Peter J. Betts — Die Kultur der Politik wäre wieder einmal und immer wieder zu überdenken; gleichzeitig dringend zu überdenken wären also jeweils u.a. die Kultur der Wirtschaft, die Kultur der Börse, die Kultur des Marktes, die Kultur der Medien, die Kultur der Werbung, die Kultur der Menschentrechte, die Kultur des Gesundheitswesens, die Kultur des Konsums, die Kultur der Demokratie, die Kultur des Bestrebens nach einer sozialgerechten Gesellschaft, die Kultur zwischenmenschlicher Beziehungen, die Kultur grenzenloser Gefrässigkeit, und all das global (welchen Sinn würde sonst der Begriff «globalisierte Welt» – pardon: «Wirtschaft» — machen?) Es ginge also um unser aller Kultur. Und wohl auch um unser aller Natur. Es geht um heute mit einer vielleicht möglichen Perspektive auf ein noch mögliches Morgen. Es geht um Werte, die Leben möglich machen. Gretchens Klage, «Nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles! Ach, wir Armen!», wird, scheint mir, wohl noch brisanter als zu Altvater Goethes Zeiten. Und auch der Goldpreis steigt und steigt. «Amen», lautet beim christlichen Ritual das Schlusswort, bei Gläubigen mehrmals täglich: «Wahrlich, es geschehe!» Mehrmals täglich wird als Schlusswort in den Radio-Nachrichtensendungen der Nikkei-Index zelebriert, gelegentlich ausklingend in die Wettervorhersage, wo bei «schönes Wetter» das auch für die Tourismusindustrie (Beitrag zum Bruttoinlandprodukt) wichtige Ausbleiben von Niederschlägen gemeint ist. Ob man das in der Sahelzone auch so versteht? Wenn ein Staatsoberhaupt kurz vor dem Staatsbankrott eine Volksabstimmung über sein Sparpaket plant: Steigt die Hysterie an den Börsen. Fallen die Börsenkurse. Wird der – Bittsteller zur Rechenschaft herbeizitiert. Es drohe so eine weltweite Finanzkrise, sagt ein anderes Staatsoberhaupt eines noch bedeutenderen Staates – dort verfügt, vielleicht noch krasser als hier, nur ein kleiner Prozentsatz der Bevölkerung über den grössten Teil des monetären Reichtums im Staat, wie Vertreterinnen und Vertreter der gemäss ihrer Kampflieder 99% weniger privilegierten Bevölkerung u.a. auf öffentlichen Plätzen des höchst bedeutenden Landes skandieren. Und die vereinigten Staatsoberhäupter setzen den – Bittsteller unter Druck, so dass er die geplante Volksabstimmung absagt. Und so weiter. Man fragt sich, etwa in illustren Diskussionsrunden in den Medien, ob heute die Politik (noch) die Wirtschaft kontrollieren, lenken könnte, oder ob die Wirtschaft die Politik (noch immer) beherrsche, lenke. Wie geht es weiter? Die ehrlicheren Politiker geben mehr oder weniger offen zu, sie wüssten es nicht. Die Wirtschaft, wer immer das sein mag, interessiert die Frage nicht. Nicht, so lange das Bestreben nach ständigem Wachstum und der Glaube an die Möglichkeit eines ständigen Wachstums handlungsbestimmend bleiben. Amen. Nicht, so lange die Börse zu knurren beginnt, wenn ein Konzern fünf sechs Milliarden Euro Jahresgewinn «gemacht» (gemacht?) hat, aber – Oh Schreck! – fast eine halbe Milliarde weniger als im Vorjahr, weltweit deshalb ein paar tausend Menschen, mit oder ohne «Sozialplan», ihre Arbeit verlieren und die Investoren dann im nächsten Jahr aber vom noch höheren Jahresgewinn als im Vor-vor-Jahr profitieren können, also selber einen Gewinn «machen» oder «erwirtschaften». Eine Art Rosenkranz. Der Glaube ans Ziel des ständigen Wachstums: nur Idiotie? nur Gefrässigkeit? Und diese Idiotie wäre das Credo des grössten Teils der Menschheit? Die Frage, ob etwas wachsen könne, ohne dass etwas anderes sich vermindere, wäre eigentlich nicht schwierig zu beantworten; die Einsicht, Geld sei nur (Tausch)Mittel zum Zweck läge nicht fern. Also ungebremste Gefrässigkeit? Weiterfressen, bis zum Too Big to Fail und immer weiter! Ein monströser, kranker Organismus. Und die Politik, das ganze Fussvolk kommen aus Angst um sich selbst herbeigerannt, stopfen jede Körperöffnung jede Pore des sich ausdehnenden Monstrums mit Zusatznahrung, kneten die immer dünner werdende Haut, denn der hässliche Fettklotz darf nicht platzen! Das Umfeld bliebe kontaminiert –denken Sie an «durchgebrannte» Atomreaktoren, wie sie kürzlich für eine Weile interessantes Futter für die Medien dargestellt haben – und nachhaltiges Elend für die fernen Betroffenen. Ein knapp skizziertes Szenario, das unser aller Kultur irgendwie umreisst? Wie viel Zeit dürfen mobile Spitex-Betreuerinnen für einen einzigen Patienten per Einsatz höchstens aufwenden? Eine Viertelstunde? Kann man in einer Viertelstunde einen Spastiker in seine Tageskleidung reinzwängen, ohne ihm dabei seine Glieder zu brechen? Kann eine alleinstehende Greisin nach dem Zähneputzen, beim Gekämmt werden in den verbleibenden drei Minuten sagen, was sie in der Nacht geplagt hat und was ihr im bevorstehenden Tag Angst macht? Interessiert das jemanden? Darf es jemanden, zum Beispiel die kämmende Spitex-Fahrerin, interessieren? Bezahlt die Versicherung dieses Interesse? Die Spitexorganisation ist als Ganzes eine Profitunit. Man minimiert die Kilometerbeiträge der Betreuerinnen und «optimiert» deren Einsatzzeit: eine Führungsfrage. Schliesslich ist Spitex ein Konkurrenzprodukt zum Spitalwesen. Haben die Pflegenden dort Zeit für die Bedürfnisse ihrer Patientinnen und Patienten? Simpel: man minimiert deren zugelassenen Bedürfnisse. Auch das eine Führungsfrage. Der Markt entscheidet? Klingt schön. Im Supermarkt stehen mir wohl mindestens vierzig Joghurtsorten zur Auswahl. Will ich vierzig Joghurtsorten ausprobieren, um dann eine begründete Auswahl für mich treffen zu können? Eben! Wären fünf Sorten nicht ausreichend? Der Markt entscheidet. Die Menge zählt: sie muss grösser sein als bei der Konkurrenz. Und ich kann mich auf die Werbung stützen. Die Werbung ist eine blühende Wirtschaft. Hat sie eine Kultur? Nein, du Trottel: Werbung ist Kultur, oder willst du sie als Natur verstehen? In der Schweiz niedergelassene Firmen müssen darauf achten, dass ihre Niederlassungen weltweit sich an die Menschenrechte halten. Auch wenn es um Rohstoffe geht? Auch wenn in jenem Land Kinderarbeit zu Hungerlöhnen üblich ist? Ist auch die Konkurrenz an solche ethische Vorgaben gebunden? Nein? Und wie bleiben wir denn konkurrenzfähig? Ach, tut doch nicht so: die totalitären «Sozialstaaten» haben mit ihrer Planwirtschaft bewiesen, dass es nichts bringt, wenn die Politik die Wirtschaft zu gängeln versucht. Gibt es die Sowjetunion noch? Neoliberalismus ist das Rezept, fragen Sie Frau Thatcher oder ihren sie übertreffenden Schüler, Herrn Blair! Bei der Politik von staatlicher Förderung der Künste – oberflächlicherweise häufig als «Kulturpolitik» bezeichnet – stellt sich dauernd die Frage: Soll man nach fundierten, durchdachten Konzepten handeln oder gemäss der Tagesopportunität? Richtet man sich nach der Tagesopportunität, handelt man sich Anerkennung jener ein, die einen dann wirkungsvoller unterstützen werden. Kunstschaffen fällt eh nicht ins Gewicht, die Kunstschaffenden sollen selber zu sich schauen, das macht sie stark und damit auch für uns einträglich. Natürlich haben diese «KulturpolitikerInnen» – auch – recht: Kunstschaffende haben keine allgemeingültigen Rezepte (im Gegensatz etwa zu Herrn Blair oder Frau Thatcher). Aber die Auseinandersetzung mit ihren – nicht auf die Bedürfnisse von Kunstgremien oder von Kunstmärkten abgestimmten – Produkten ermöglicht in Herzen und Köpfen der betrachtenden, zuhörenden, lesenden Individuen Welten erstehen zu lassen, die vielleicht die potentielle Veränderbarkeit der jeweiligen Wirklichkeiten zum Keimen bringen. Das Zusammengehen von Kunstprodukten und die Auseinandersetzung mit ihnen könnte die Kultur sein, die wir brauchen. Kunstschaffende liefern nur Werkzeuge, Anreize die «Gegebenheiten» zu überdenken – jemand kann diese in die Hand nehmen. Sie, zum Beispiel.
Foto: zVg.
ensuite, Dezember 2011