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Ein Igel, kein Fuchs

Von Julia Richter — Es sollte ver­boten wer­den Men­schen zu foltern. Viele wür­den diesem Grund­satz heute wohl zus­tim­men. Den­noch ist Folter in eini­gen Län­dern noch immer als «legit­ime Ver­hörmeth­ode» etabliert. Was, wenn durch die mit Folter erzwun­genen Geständ­nisse Tausende von Leben gerettet wer­den kön­nen? Was, wenn die gefolterten und poten­tiell grausamen Indi­viduen weniger gel­ten als das Glück der Gemein­schaft? Gibt es moralis­che Werte, die das Foltern unab­hängig von möglichen Fol­gen kat­e­gorisch ver­bi­eten?

Der am 14. Feb­ru­ar 2013 ver­stor­bene renom­mierte Philosoph und Recht­s­the­o­retik­er Ronald Dworkin entwick­elt in seinem Buch «Jus­tice for Hedge­hogs» – Gerechtigkeit für Igel – eben­solche moralis­chen Werte. Ja, es sei möglich eine Moral zu definieren, die unab­hängig von gesellschaftlichen, kul­turellen und his­torischen Kon­tex­ten und unab­hängig von den möglichen Fol­gen ein­er Hand­lung ihre Gültigkeit bewahre.

Gerechtigkeit für Igel, nicht für Füchse. Dworkin begin­nt sein Buch mit dem viel zitierten und inter­pretierten Satz ein­er vom alt­griechis­chen Dichter Archilo­chos über­liefer­ten Fabel: «The fox knows many things, but the hedge­hog knows one big thing» – der Fuchs weiss viele Dinge, aber der Igel weiss eine grosse Sache.

Isa­iah Berlin ver­lieh dem Satz in seinem berühmten Essay über Leo Tol­stoi fol­gende Bedeu­tung: Während sich Füchse für viele ver­schiedene Dinge inter­essieren und dabei den Blick für ein allum­fassendes Ganzes ver­lieren, sehen Igel ein Gesamt­sys­tem von Hand­lun­gen und Werten und ver­suchen, ihr Leben als Ein­heit zu begreifen. Shake­speare und Aris­tote­les als Füchse. Dworkin als Igel.

Ver­sucht man nun, Folter in einen ergeb­nis­sensi­tiv­en oder kul­tur­rel­a­tiv­en Kon­text zu stellen, fol­gt man den Füch­sen: Foltern ist grund­sät­zlich falsch, aber es gibt kein Gesamt­sys­tem moralis­ch­er Werte, das der Men­schheit ein absolutes Folter­ver­bot aufer­legen würde. Die Fuchsper­spek­tive erlaubt Men­schen, in bes­timmten Aus­nah­me­fällen auf Folter zurück­zu­greifen, ohne dabei moralisch falsch zu han­deln. Wenn es beispiel­sweise darum geht, durch Foltern den Aufen­thalt­sort von hun­dert gekid­nappten Kindern zu erfahren, die anderen­falls getötet wür­den. Oder, ein Selb­st­mor­dat­ten­tat in ein­er Metro zu ver­hin­dern.
In Fuchs­man­ier zu behaupten, dass die meis­ten Hand­lun­gen auf irgen­deine Art moralisch richtig oder moralisch falsch sein kön­nen, führt allerd­ings dazu, dass die «Moral an sich» gar nicht existiert. Es gibt also kein Wert­ge­füge, das in Hin­blick auf die Frage, ob es richtig ist zu foltern, eine all­ge­me­ingültige und uni­verselle Ori­en­tierung bietet. Und wenn es keine richti­gen oder falschen moralis­chen Urteile gibt, wofür brauchen wir sie dann, die Moral?

Der Moral ihre uni­verselle Gültigkeit abzus­prechen, find­et Dworkin, ist selb­st ein moralis­ches Urteil. Es ist eine indi­rek­te moralis­che Stel­lung­nahme – denn im Hin­blick auf die Folter Moral zu negieren, kann in let­zter Kon­se­quenz auf eine Befür­wor­tung der Folter hin­aus­laufen.

Dworkin ist ein Igel: Es gibt eine Moral, die das men­schliche Leben dominiert, und es gibt all­ge­me­ingültige, richtige und falsche moralis­che Werte. Dabei ist die men­schliche Würde das Ele­ment, welch­es über die Ein­heit der moralis­chen Werte bes­timmt. Die Würde aller Men­schen set­zt sich aus Selb­stach­tung und aus Selb­stver­wirk­lichung zusam­men. Ein inter­es­san­ter Ansatz: Während viele moralis­che The­o­rien auf Selb­stverzicht, die Negierung der eige­nen Inter­essen und auf Akteursneu­tral­ität beruhen, rückt Dworkin die Wichtigkeit der Selb­stach­tung und der Selb­stver­wirk­lichung ins Zen­trum sein­er The­o­rie. Jed­er Men­sch sollte die Ambi­tion haben, aus dem eige­nen Leben ein gutes Leben zu machen und es nicht als eine ver­schwen­dete Gele­gen­heit («wast­ed oppor­tu­ni­ty») ver­stre­ichen zu lassen.

Und haben wir erst ein­mal erkan­nt, dass wir unser Leben in Würde zu leben haben, so kön­nen wir anderen Men­schen das Recht auf Selb­stach­tung und Selb­stver­wirk­lichung nicht absprechen ohne dabei inkon­sis­tent zu sein – und das bedeutet, dass gesellschaftliche Insti­tu­tio­nen wie Recht und Poli­tik so gestal­tet sein müssen, dass sie mit der Würde aller Men­schen kor­re­spondieren.

Aus der Pflicht zur Selb­stach­tung eine Pflicht zur gle­ichen Achtung ander­er abzuleit­en ist das Fun­da­ment der von Dworkin ent­wor­fe­nen The­o­rie objek­tiv­er Werte: Wenn es mein­er Selb­stach­tung und mein­er Möglichkeit zur Selb­stver­wirk­lichung grund­sät­zlich wider­spricht, Folter aus­ge­set­zt zu sein, so darf ich andere Men­schen eben­falls nicht foltern.

«Jus­tice for Hedge­hogs» ist Dworkins let­ztes Buch – auf dicht bedruck­ten 500 Seit­en wen­det er das Konzept der men­schlichen Würde als ein­heitlich­es Wert­ge­füge unter anderen auf den Sinn des Lebens, auf Men­schen­rechte, Demokratie, den freien Willen und zwis­chen­men­schliche Verpflich­tun­gen an. Ein umfan­gre­ich­es let­ztes Werk – das darauf hin­aus­läuft, die objek­tive Exis­tenz ein­er Moral aufzuzeigen und zu begrün­den. Es gibt ein moralisch richtiges und ein moralisch falsches Han­deln.

Und Foltern ist eine moralisch falsche Hand­lung, da sie der Würde des Men­schen zuwider­läuft. Für Igel wie Dworkin bes­timmt also ein Gefüge moralis­ch­er Nor­men, dass Foltern uni­ver­sal und kat­e­gorisch ver­boten wer­den muss.

Foto: zVg.
ensuite, März 2013

Artikel online veröffentlicht: 20. Juli 2019