Von Barbara Roelli — Was bis jetzt auf dem kulinarischen Speiseplan fehlte, waren Meeresfrüchte, fruits de mer. Ein Muss hier am Meer, an der französischen Atlantikküste, weil alles frisch ist. Frischer vom Fischer geht’s nämlich nicht. Was sich am Morgen noch im Meer getummelt hat – auf dem Sandboden rumgekrabbelt oder zwischen Felsen umher geschwommen ist — drapiert sich auf den hiesigen Märkten zu einer reichen Palette. All diese Tiere – einmal mit, einmal ohne Augen – werden auf Eis gekühlt feilgeboten. Angeschrieben sind sie mit Namen und dem Zusatz «vivant» oder «cuit». Krustentiere in lachs bis papayarot und Muscheln mit Schalen in marineblau bis kalkweiss. Ich schlendere durch die Markthalle von La Tremblade und ziehe mir das Duftbouquet durch die Nase: Meer, Sand, Salz, Fisch, Eis, Algen, Zitrone. Frische ist vorherrschend, dahinter ist ein leichter Verwesungsgeruch wahrnehmbar. Ich bin mir auch dieses Mal nicht sicher, ob ich das Parfum «Fischmarkt» wirklich mag (jedes Mal, wenn ich einen Fischmarkt besuche, erlebe ich dieselbe Unsicherheit). Ob es nicht einfach die gelernte Esskultur ist, die mich diesem penetranten Duftgemisch gegenüber so tolerant macht? Weil ich weiss, wie die Beute aus dem Meer – wenn sie denn mal tot ist – schmeckt? In einer Marinade eingelegt oder im Weinsud gekocht, mit Mayonnaise und Pommes Frites in Begleitung?
Wie dem auch immer sei, ich will in Kindheitserinnerungen schwelgen: Wieder wie damals mit zehn Jahren die «langoustes» (bei uns Scampi genannt) verspeisen; das Fleisch der Tiere mit eigenen Händen freilegen, was mir damals als Kunst erschien. Denn nur wer sich geschickt anstellt, ergattert auch das hinterste, zarteste Stück aus ihren langen, feingliedrigen Beinen.
Der geeignete Ort, die kulinarischen Erinnerungen aufleben zu lassen, ist schnell gefunden. An einer Strasse neben Austernbänken reihen sich die Restaurants dicht an dicht. In Aussen-Cheminées werden Miesmuscheln mit Piniennadeln belegt und anschliessend angezündet. Das ganze nennt sich «Eclade de moules». Ein Siegergefühl macht sich breit — ich fühle mich am Herd der authentischen, regionalen Küche.
Natürlich lasse ich mir das Abenteuer nicht entgehen und bestelle gleich das «Plateau de fruits de mer» mit der ganzen Sammlung an Getier vom Küstengebiet. Dazu Pommes Frites und Weisswein aus der Region. Als die Platte gebracht wird, finde ich mich vor einem kaum bezwingbaren Berg wieder. Die unterste Schicht bilden Miesmuscheln, darüber liegt ein Teppich aus kleinen grauen und grossen rosa Crevetten, Scampi und Venusmuscheln. «Bigorneaux» entpuppen sich als kleine, dunkelbraune und «bulots» als grosse, hellbraune Schnecken. Den Berg krönt ein halber Taschenkrebs mit rostrotem Panzer samt blauem Plastikstern als Dekor.
Ich studiere das Werkzeug, das man mir gereicht hat: Eine Art Nussknacker und zwei kleine Gabeln; die eine könnte als Zahnarzt-Utensil verwendet werden. Mein Herz schlägt schneller: Ich hab noch nie einen Taschenkrebs ausgelöffelt oder seine Zangen aufgebrochen. Zudem erinnere mich an ein eigenartiges Bauchgefühl nach dem letzten Mal Moules-Essen.
Als Starter wähle ich eine Auster. Hab ich vor Urzeiten mal probiert. Die sollte man doch schlürfen. Aber die glibbrig, transparent-milchige Muschel hält sich hartnäckig an der Schale fest. Mit der einen Gabel kratze ich sie weg und irgendwie landet sie in meinem Mund. Einen Moment lang spüre ich den Atlantik auf meiner Zunge, dann entschwindet das glitschige Ding durch meinen Rachen. Ich nehme die feine Gabel und mache mich damit an die Eingeweide des Krebses. Konsistenz: griess-artig, Geschmack: nussig, welche Organe: keine Ahnung. Ein Schluck Weisswein tut gut. Glied um Glied knacke ich die Beine, die Scheren des Krebses auf und löse das Fleisch heraus. Darf man seinen Aszendenten verspeisen?
Neben mir steht ein Plastikbecken, das sich nur langsam mit den Überresten füllt. Ich grüble Schnecken aus ihren Häusern, sauge die Beine der Scampi aus und ziehe Muschelfleisch aus Schalen. Bei den kleinen Crevetten knipse ich nur den Kopf weg. Etwas Mayonnaise dazu.
Kaum die Hälfte geschafft und ich hab genug von den Früchten. Der «assiette de fruits de mer» wäre die richtige Wahl gewesen. Aber nein, es musste unbedingt das «plateau» sein. Etwas Genügsamkeit würde mir gut tun. Zum Abschluss überwinde ich mich, noch eine Venusmuschel zu verdrücken. Ich schlucke sie grad ganz herunter und denke an die römische Göttin der Liebe. Dann gebe ich auf. Was zurückbleibt ist ein Schlachtfeld aus Panzerstücken, Krustenteilen und Schalen. Und mindestens 40 Leichen im Teller.
In der Nacht nimmt die Göttin der Liebe Rache an mir. Den ganzen Mageninhalt muss ich wieder hergeben — zurück zur Natur. Ich stehe neben einem Maisfeld, vor mir die Meeresfrüchte in halbverdauter Form. Irgendwie ist meine Liebe zu ihnen keine kulinarische. Dennoch sind die Früchte geheimnisvoll, kommen aus dem unergründlichen Wasserreich, leben zurückgezogen, in Schalen und Schneckenhäusern. Und wer nicht aus dem Haus kommen will, den sollte man besser in Ruhe lassen. Morgen gibt’s Maiskolben vom Grill.
Foto: Barbara Roelli
ensuite, September 2009