Von Patrik Etschmayer - Der Kampf um die Energiewende ist ein klassischer Kampf des Besitzstandes gegen den Umsturz von bestehenden Strukturen. Er ist auch eine Erinnerung daran, wie sehr viele der gegenwärtigen Lösungen vor allem darauf basieren, wie Probleme vor 100 oder 50 Jahren angegangen worden sind, und nicht, wie wir heute solche Fragen beantworten würden.
Die Schweiz in ihrer heutigen Grundkonstellation ist in etwa 170 Jahre alt. Ihre politische Organisation basiert auf Ideen, die damals gereift sind, als Nach- und Gegenwartswehen des Todeskampfes der europäischen Aristokratie, der damals stattfand und der genau zu der Zeit, als sich die Schweiz ihre erste bundesstaatliche Verfassung gab, ausserhalb der Schweiz von den alten Kräften gewaltsam aufgehalten wurde. Repression und Restauration (oder eher Re-Restauration) waren Ende der 1840er-Jahre die Schlagworte in Europa und Nationalstaatlichkeit immer noch ein revolutionär neues Konzept, das im Widerspruch zu den immer noch tief in den Köpfen der Monarchen und Monarchisten ruhenden Ideen stand.
Dass heute Nationalismus als tief reaktionär angeschaut werden kann und es ausgerechnet die Nationalisten und Überpatrioten sind, die sich nach den «alten» Ordnungen sehnen, ist dabei nicht nur ironisch, sondern sogar etwas absurd. Es ist vermutlich abwegig, anzunehmen, dass die damaligen Republikaner – auch jene in der Schweiz – ihre neuen nationalen Ideen als endgültig, als neue Conditio sine qua non für alle Ewigkeit betrachteten, die das bis dahin geltende Gottesgnadentum für die Herrschenden mit einem vergleichbaren Absolutheitsanspruch ersetzen sollte.
Doch genau das scheint in den Köpfen sehr vieler Menschen zu stecken. Statt die Identität durch die absolute Künstlichkeit des Untertanentums in Feudalzeiten zu finden, die eigentlich eine Nicht-Identität war, werden nun die meist von den abgesetzten Feudalherrschern zuletzt etablierten Grenzen als neues Behältnis der Identität deklariert. Der Wahnsinn der rassisch begründeten Identität – ebenso ein rein in der Vorstellung lebendes Konstrukt wie eine willkürlich gezogene Landesgrenze – stellt dabei meist die Grundlage dar. Kultiviert werden diese Vorstellungen von all jenen, denen universelle Ideen und Werte zu künstlich scheinen, und die dabei vergessen, dass jegliche Selbstwahrnehmung, die über den unmittelbaren Lebenskreis hinausgeht, künstlich ist. Franzosen gibt es ebenso wenig wie Schweizer oder Türken. Oder: Es gibt sie nur durch den Konsens der Selbstdeklaration.
Ein relativ unappetitlicher Beweis dafür sind ja die sogenannten Reichsbürger, welche den nationalen Konsens in Deutschland und Österreich durch einen nationalistischen Nonsens unterlaufen wollen. Sie zeigen damit einerseits auf, dass Nationalität wirklich nur ein Konstrukt ist. Andererseits demonstrieren sie durch ihren Versuch, diese durch eine angeblich «wahrhaftigere» zu ersetzen, dass es diese jenseits des nationalen Konsenses gar nicht wirklich geben kann. Fanatiker haben sich in dieser Hinsicht ja immer schon ideal dafür geeignet, als perfekte Beispiele dafür zu dienen, die Künstlichkeit und Absurdität der von ihnen fanatisch geliebten Ideen zu beweisen. Sei dies nun Religion, Nation oder die Liebe zu einer Boygroup.
Alles, was soziales Zusammenleben angeht, seien es nun Menschenrechte, Nationen oder Religionen, sind Ideen, deren Wurzenl in den Wünschen der Menschen zu finden sind, in ihrem Sehnen nach einer idealen, begreifbaren und in ihren Augen gerechten Welt. Wobei Gerechtigkeit für die einen ja durchaus absolutes Unrecht für andere bedeuten kann, wie rechts- und linksextreme, religiöse Irre, Autokraten und Diktatoren es immer wieder zu beweisen vermögen.
Unter dieser Prämisse und jener, dass die meisten Menschen ein friedliches Leben in ausreichender Sicherheit und ohne willkürliche Gewaltanwendung gegen sich selber brutaleren Alternativen vorziehen, müsste man sich die Frage stellen, ob wir die Welt, mit all dem Wissen, das wir haben, wieder so organisieren würden, wie sie jetzt organisiert ist?
Oder ganz anders?
Nur … wenn man darüber ernsthaft nachzudenken beginnt, wird es kompliziert. Denn wir sind Gefangene der Geschichte. Selbst wenn wir alles neu organisieren könnten, haben wir das Problem der Dinge, die schon sind. Jede vorgestellte und verwirklichte Ideenwelt spiegelt sich – sofern sie nur lange genug existiert – in der real existierenden, wirklichen Welt wider. Strassen, Siedlungen, Städte, gebaute ebenso wie nicht gebaute Brücken. Infrastrukturen und solche, die nicht oder nicht mehr existieren. Sie sind das Korsett, in das wir von unserer Vergangenheit geschnürt werden. Und verwoben mit diesem Korsett der existierenden, geschaffenen Welt sind Profite und Macht, die mit diesen Dingen einhergehen.
Womit wir es wieder zur Energiewende geschafft haben. Denn hier ist der Besitzstand exemplarisch. Zentralistische Energieerzeuger wollen ihre Kraftwerke so lange wie möglich bewahren, selbst wenn sie ihre ursprünglich geplante Lebenszeit schon längst überschritten haben – wie unsere AKWs. Ebenso sollen die Verteilstrukturen wie gehabt gehalten werden, obwohl die auf uns zukommenden Speicheroptionen eine von den heutigen Strukturen grundsätzlich unterschiedliche Energieversorgungsstruktur erlauben. Die Energiestrategie erfordert tatsächlich ein neues Denken der Versorgungsinfrastruktur – mit all den darin liegenden Risiken. Denn, sicher, Neuland zu betreten birgt immer Unwägbarkeiten in sich, und manche Ängste sind durchaus gerechtfertigt, denn die erforderlichen technischen Lösungen sind noch nicht alle entwickelt. Doch Energiespeicherung – und darum geht es hier letztendlich – ist das grosse Ding für die Zukunft. So ist diese «Energiezukunft», um die es hier geht, die Chance, sich selbst in eine Führungsrolle zu zwingen – mithin eine grosse Chance, die wie alle solchen Chancen auch ein Risiko in sich birgt. Und in diesem Fall auch einen frontalen Angriff auf die bestehenden Strukturen. Doch diese sind ohnehin bald an ihrem Ende angelangt. So besteht die Wahl vor allem darin: den Wandel mit oder ohne eine Strategie anzugehen.
Und das sollte ja eigentlich keine Wahl sein.
(Bild: Greenpeace Darmstadt)