Von Stanislav Kutac — Es ist nicht so einfach zu verstehen: während Menschen Unvorstellbares erleiden, wissen andere nichts Besseres zu berichten, als gerade darüber. Und nun greifen wir dieses Thema auch noch auf und machen es zu unserem, als ob es in einem Kulturmagzin etwas zu suchen hätte. Jetzt, wo alles medial längst ausgeschlachtet ist. Warum? Weil wir uns noch daran erinnern. Weil es nicht mehr taufrisch ist. Und weil es sich gut eignet um den Bezug zu uns selbst zu transportieren, den Faktor, den wir in Anbetracht ungeheurer Geschenisse fast immer ausser Acht lassen.
Fukujima: ein Gedankenanstoss Fukujima und Tschernobyl (was frei übersetzt soviel bedeutet wie: es wurde schwarz) stehen für die schwersten, ungewollten, nuklearen Katastrophen unserer Zeit. Sie sollen deshalb der Ausgangspunkt für ein paar unorthodoxe Gedanken sein.
Lassen Sie uns aber am Anfang beginnen. Am 11. März 2011 wurden wir daran erinnert, wie gefährlich weit wir uns aus dem Fenster gelehnt haben. Eines der hochtechnologisiertesten Völker der Welt ist vollkommen machtlos gegen die Gewalten der Natur. Schlimmer noch: Eine wichtige Grundlage der japanischen Wirtschaftsmacht, die atomare Energiegewinnung, wird durch die Beschädigung des Kernkraftwerks Fukujima in ihren Grundfesten erschüttert, und damit die ganze AKW gläubige Welt. Nachrichten über das Ausmass der Katastrophe sickern nur häppchenweise durch. Niemand soll wissen, was tatsächlich geschieht. Die wohl dosierte Berichterstattung der japanischen Regierung verhindert nicht nur das Aufkommen von Panik, sondern beruhigt auch unsere schnell erhitzbaren und ebenso schnell abkühlenden Gemüter. Während die Medien die Katastrophe gerne eher noch grösser ge-habt hätten, als sie ohnehin schon ist.
Dazu folgende Gedanken: Kann es sein, dass alles was geschieht, genauso wie es geschieht richtig ist, nur dadurch, weil es geschieht? Richtig im Sinne von berechtigt durch seine blosse Existenz? Das was bereits existiert und geschieht, braucht von niemandem Berechtigung zu erhalten. Wollen Sie mir darin zustimmen? In unserem Fall: weder das Erdbeben, noch der Tsunami, noch die einstürzenden Häuser und Kernkraftwerke, noch deren Betreiber, noch die japanische Regierung, noch die Medien, noch wir LeserInnen, noch die scheinbar daraus resultierenden Reaktionen. Alles gehört zu einer Ereigniskette und ist in sich auch selbst ein unabhängiges Ereignis, das wohlgemerkt von niemandem Erlaubnis benötigt. Lassen Sie uns deshalb auf dieser Basis ein paar weitere Fragen stellen.
Ist es nicht so, dass unser Mitgefühl nur auf der Vorstellung selbst befürchteter Schmerzen beruht? Ist es nicht so, dass unsere Neugier den Beginn des Vergessens einläutet? Ist es nicht so, dass wir nur hinschauen um sicher zu sein, dass es uns nicht betrifft? Ist es nicht so, dass wir insgeheim dennoch ahnen, dass wir nicht entkommen? Ist es nicht so, dass uns genau das unterschwellig in Angst hält? Ist es nicht so, dass wir deshalb dazu neigen nur ungenau hinzusehen, uns stattdessen ein Happy End auszumalen versuchen? Ich weiss nicht wie es Ihnen geht, wenn Sie sich einen Film ansehen. Ich jedenfalls spüre immer einen inneren Drang nach einer befriedigenden Lösung, Auflösung, einem erlösenden Happy End. Aber wie ist das vereinbar mit den meist unerfüllten Happy Ends unseres eigenen Lebens?
In unserem Fall, der nuklearen Katastrophe, kommt erschwerend hinzu, dass die effektive Bedrohung weder sichtbar, noch spürbar oder sonstwie wahrnehmbar ist. Die Menschen vor Ort können sich das Gefahrenpotenzial der Strahlung auch nur vorstellen, genauso wie wir, tausende Kilometer weit entfernt. Unsere Ängste sind gleichfalls geprägt von etwas Unfassbarem, rein gedanklich Erzeugtem. Das Gefühl von Sicherheit ist so nur schwer zu installieren. Wenn da nicht das Vergessen wäre.
Etwas existiert quasi nur, wenn wir es im Sinn behalten, wenn wir etwas Bestimmtem Augenmerk schenken. Dieser Akt ist ersteinmal genauso unsichtbar, unspürbar wie radioaktive Strahlung. Die Folgen materialisieren sich erst viel später. Wohlgemerkt: die Folgen. Das, was auf die Fixierung unserer Wahrnehmung folgt, sind deren Auswirkungen. Die Ursachenkette ist später meist nur noch schwer nachvollziehbar. So werden wir immer erst wach, wenn wir den Schmerz erfahren und daran leiden, dass wir uns nicht mehr erinnern können, was wir selbst dazu beigetragen haben. Heisst es nicht: Wer nicht hören will, muss fühlen? In unserem Fall würde es wohl heissen müssen: Wer nicht verstehen will, muss leiden.
Anders ausgedrückt: Stellen Sie sich vor, dass es Parallelen gäbe zwischen der Unfassbarkeit und Gefährlichkeit atomarer Verstrahlung und der omnipräsenten Verstrahlung unseres Lebens durch die Art unseres Denkens an Liebloses und Lebensfeindliches. Ich hoffe nur, dass die Halbwertszeiten von Gedanken kürzer ausfallen als die von z.B. Plutonium. (Halb-werts-Zeit von Plutonium nach Wikipedia ca. 25 Tausend Jahre.)
P.S.
Ist es nicht erschütternd, wenn wir beginnen uns einzugestehen, wie gleichwertig so unterschiedliche Ereignisse wie die Tragödie von Fukujima oder die Hochzeit von William und Kate unsere Aufmerksamkeit bemühen? Wie nahe das Verheerende dem Profanen ist? Ich denke, dass wir nicht darum herum kommen uns zu vergegenwärtigen, dass die Berichterstattung der Medien auch nur ein Abbild unserer Interessen, Vorlieben, Ängste und Träume ist. Mögen die Menschen, die darin die Hauptrollen spielen, trotz allem einen guten Weg finden, ihr Leben weiter zu leben.
Foto: zVg.
ensuite, Juni/Juli 2011