Von Roger Merguin — Eine der Prioritäten bei meinem Start vor fast fünf Jahren in der Dampfzentrale als Ko-Leiter und Verantwortlicher für den Tanz war die Realisierung des Projektes Festival HEIMSPIEL. Den Tanzschaffenden sollte eine Plattform geboten werden, die es ermöglicht, ihre Arbeiten unter professionellen Bedingungen zu zeigen. Ohne eine lebhafte lokale Tanzszene würde ein wichtiger Teil im Kulturangebot fehlen. In Bern gab es schon immer interessante Gruppen im zeitgenössischen Tanz, und eine der Aufgaben der Dampfzentrale ist es, diese Szene zu zeigen und zu fördern. In den fünf Jahren, die es das Festival nun schon gibt, wurden diverse interessante Projekte realisiert. Einige der Berner konnten ihre Arbeiten in anderen Schweizer Städten zeigen und sind Teil der nationalen und internationalen Tanzszene.
Das alljährlich im Februar stattfindende Festival wurde im letzen Jahr durch «Heimspiel-satelliten» erweitert. Neben dem Schwerpunkt im Frühjahr sind im normalen Spielplan der Dampfzentrale auch weitere Premieren von Berner Künstlern über das Jahr hinaus zu sehen.
In der Dampfzentrale finden nicht nur Aufführungen statt, es wird in den Räumen der Dampfzentrale auch geprobt, und Stücke werden erarbeitet. Wir erfinden neue Formate zur Förderung der Tanzschaffenden, meist in enger Zusammenarbeit mit den Tanzschaffenden (tap — tanzaktiven plattform Bern). Zum Beispiel entstand das «Tanzlabor Open Doors», in dem sich die Berner Tanzschaffenden in der Dampfzentrale während fünf Tagen «einschliessen» und zusammen einen Abend gestalten. Das Ziel ist, dass Künstler die normalerweise nicht zusammenarbeiten, im selben Raum und auf derselben Bühne an einem gemeinsamen Projekt arbeiten. Es findet eine Vernetzung unter den Tanzschaffenden statt, und sie können aus diesem Atelier interessante Inspirationen gewinnen. Es ist wichtig, Freiräume für Kunstschaffende zu entwickeln, damit sie ihre Arbeit ohne Erfolgs- und Leistungsdruck hinterfragen und reflektieren können. Neben diesem Atelier konnten wir die Berner auch in nationale Projekte integrieren; zum Beispiel in ein Dramaturgie-Workshop-Projekt in Zusammenarbeit mit Lausanne, Genf und Zürich, an dem in diesem Jahr Marcel Leemann teilnimmt. Unter der Leitung von Spezialisten setzen sich Choreographen intensiv mit dem Begriff Dramaturgie in Tanzstücken auseinander. Eine öffentliche «Lecture Demonstration» findet in allen vier Städten statt.
Weitere nationale Projekte wurden in Zusammenarbeit mit Schweizer Theatern realisiert, um den Berner Stücken Aufführungen in Lausanne, Zürich oder Genf zu ermöglichen. Zusätzlich zum Aufbau eines Netzwerkes, um das Berner Tanzschaffen national bekannt zu machen, fördern wir den Dialog der Choreographen mit Spezialisten und dem Publikum. Zum Beispiel haben wir während des Festivals «TANZ IN. BERN 10» Choreographen eingeladen, das Festival zu begleiten und die Stücke der internationalen Gäste zu analysieren und zu hinterfragen. Daraus sind interessante Diskussionen und Reflektionen zum zeitgenössischen Tanz entstanden.
Die Resultate aus diesen verschiedenen Projekten zur Förderung der Berner Tanzszene sind nicht unmittelbar für den Zuschauer er-sichtlich. Sie schlagen sich aber langfristig in den Werken der Berner nieder.
Neben der international bekannten Choreographin Anna Huber gibt es neue Namen aus Bern. Ein Berner Newcomer, der in den letzen Jahren einen rasanten Start hingelegt hat, ist zum Beispiel Chris Leuenberger. Seine Stücke sind in der Schweiz, Deutschland und Holland auf Tournee, und die neue Kreation wird im Festival «TANZ IN. BERN» (20. Oktober bis 7. November 2010) zu sehen sein. Bern kann auf viele weitere Choreographen stolz sein, welche eine nationale und zum Teil internationale Ausstrahlung haben – einige davon sind am Festival «HEIMSPIEL» zu sehen. Die Kompanie T42 — Dance Projects zeigt ihr humorvolles Stück «Schattenspiel». Félix Duméril, der ehemalige Ballettdirektor des Stadttheaters Bern ist seit 2004 freischaffender Gastchoreograph, Tänzer und Pädagoge und im In- und Ausland tätig. 2006 gründete er mit Misato Inoue ein eigenes Tanzkollektiv. Im aktuellen Stück arbeitet das Duo mit dem Tänzer Michaël Pascault zusammen, welcher seit August 2008 beim Cathy Sharp Dance Ensemble in Basel engagiert ist. Dazu kommt der bekannte Berner Videokünstler Peter Aerschmann. Ergänzt wird der Doppelabend mit dem Kurzstück «Woman of War» von Cynthia Gonzalez. Die Bolivia-
nerin, die in den USA Tanzerfahrungen sammelte, studiert zur Zeit Scenic Arts Practice (Studiengang Theater) an der Hochschule der Künste Bern. Ihre eigene Familiengeschichte und Kindheitserinnerungen zu Zeiten schwieriger politischer Unruhen in Bolivien haben sie zu diesem Stück inspiriert.
Am darauffolgenden Wochenende ist das Marcel Leemann Physical Dance Theater mit «REVOLVER» zu sehen. Marcel Leemann war Mitglied des Bern:Ballett und arbeitet seit 2003 als freischaffender Tänzer, Choreograph, Tanz- und Theaterpädagoge mit seiner eigenen Kompanie in Bern. Dem Tanzpublikum sind seine kraftvollen und sorgfältig gearbeiteten Stücke bekannt.
Die Bielerin Susanne Mueller Nelson ist eine weitere Künstlerin, die wir eingeladen haben. In ihrer Tanz- und Musikperformance arbeitet sie mit «instant composing». Das heisst, das Stück entsteht im Moment der Performance. Die Unwiederholbarkeit und das Risiko sind dabei Programm. Darauf folgt die Premiere «Die gestundete Zeit» der Tanzkompanie inFlux. Lucia Baumgartner untersucht in dieser Arbeit die Zeit in ihren unterschiedlichsten Dimensionen.
Die Arbeiten der Bieler Choreographin und Tänzerin Katharina Vogel sind authentisch und ohne Frage sehr persönlich. Sie zeigt die neueste Kreation «OHR». Ihr szenisches und choreographisches Universum ist dicht und konzentriert. Den Abschluss des Festivals macht Karin Hermes mit dem dritten Teil der Trilogie über den Dialog zwischen dem Ich und dem Du. Der erste Teil «Betwixt and Between, Dialog mit ‘Rooms’ von Anna Sokolow» war eine Koproduktion zwischen hermesdance und dem Centre National de la Danse in Paris. Der zweite Teil «Flügel an Flügel» war eine Koproduktion mit der Dampfzentrale Bern und wurde im Oktober 2008 im Rahmen des internationalen Festivals «TANZ IN. BERN» uraufgeführt.
Das Tanzschaffen in Bern und der zeitgenössische Tanz zeichnen sich durch ihre Vielfältigkeit aus. Tanz ist interdisziplinär – Tanz kann auch Theater, Performance, Musik, Video und Bildende Kunst sein und ist für mich durch diese Freiheit eine zeitgenössische und inspirierende Kunstform. Das zeitgenössische Tanz-schaffen soll ein Gesamtkunstwerk sein, soll sich von der Mainstream-Unterhaltung abheben oder sich daran mit Ironie bedienen und kann humorvoll oder auch irritierend sein.
Es gibt sie also, die Berner Tanzszene!
Bild: (v.l.) Cynthia Gonzales, Felix Dummeril, Karin Hermes, Katharina Vogel, Lucia Baumgartner, Marcel Leemann / Foto: zVg.
ensuite, Februar 2010