Von François Lilienfeld - 9. (oder 10.?) Okt. 1813 – 27. Jan. 1901:
Ein willkommenes Geschenk zu Verdis 200. Geburtstag
Giuseppe Verdi (1813–1901) hatte das Pech, im gleichen Jahr geboren zu werden wie Wagner. Dies wird besonders deutlich, wenn man das Programm der diesen Sommer in London traditionellerweise abgehaltenen «Proms» (Promenadenkonzerte in der Royal Albert Hall) studiert: 7 Wagner-Opern in konzertanten oder halbszenischen Aufführungen, von Verdi jedoch keine einzige! Kommentar überflüßig…
Trost kommt von einer Zusammenarbeit zwischen den Verlagen Metzler und Bärenreiter: Wir verdanken ihnen die 2., überarbeitete und großzügig erweiterte Auflage des Verdi Handbuchs. Das von Anselm Gerhard und Uwe Schweikert herausgegebene Werk basiert auf einer Publikation aus dem Jahre 2000, die damals die Auszeichnung «Opernbuch des Jahres» erhielt.
Ein Handbuch ist umfassend… und umfangreich – 757 Seiten! Wer etwas über Verdi in liegender Stellung und ohne Krämpfe in Armen und Schultern lesen will, sollte zu der in der Reihe C.H.Beck Wissen 2012 erschienenen Taschenbuchbiographie von Anselm Gerhard greifen. Sie ist knapp gehalten, bietet aber dennoch umfassende und interessant geschriebene Informationen über das italienische Operngenie.
Das Handbuch jedoch ist eine schier unerschöpfliche Quelle. 25 Autorinnen und Autoren haben daran mitgearbeitet. Verdis Leben wird nicht nur erzählt, sondern in den historischen und sozialen Kontext gestellt. Dabei wird besonders auf die Verdi-Rezeption eingegangen, sowie auf die diversen Aufführungstraditionen. Musik steht im Mittelpunkt, aber auch Fragen der Libretti, der Inszenierung – bereichert durch Abbildungen — und des Balletts werden besprochen. Verdis Arbeitsmethoden und seinen ästhetischen Vorstellungen sind besondere Kapitel gewidmet. Und natürlich wird jedes Werk im Detail besprochen, mit Personenverzeichnis, Entstehung, Kommentar, vielen Notenbeispielen und – ein besonderer Vorteil dieses Buches – Wirkungsgeschichte. Angefügt ist für jede Oper ein Literaturverzeichnis. Auch die nicht für die Bühne geschriebenen Werke werden im Detail behandelt.
Ebensowenig vergessen werden Fragen der Interpretation; in diesem Zusammenhang finden wir auch «Grundzüge einer Diskographie». Solche Listen mit «Referenzaufnahmen» sind natürlich vom Geschmack des Verfassers — in diesem Falle Hartmut Hein – diktiert. Besonders schmerzlich vermisse ich die Forza del destino mit Maria Callas und Richard Tucker (Leitung:Tullio Serafin), oder den von Erich Leinsdorf dirigierten Ballo in maschera mit Leontyne Price und Carlo Bergonzi.
Wie auch immer: dieses Handbuch ist unverzichtbar für jeden, der sich mit Verdi beschäftigt, sei er ausübender Musiker, Musikwissenschaftler, Regisseur oder einfach Musikliebhaber.
Gegensätzliche Zeitgenossen
Es gab immer wieder Wagnerianer, die in späteren Verdi-Opern, insbesondere in Don Carlo und Otello, bayreuthische Einflüße heraushörten. Dies beruht teils auf dem Wagner-Kult, teils aber auch auf einem einfachen musikalischen Irrtum: Sobald Verdi ins Deklamatorische verfällt, wird dies auf Wagners «Einfluss» zurückgeführt. Dies ist in mehrfacher Hinsicht Unsinn:
Verdi hat schon viel früher deklamatorische Passagen komponiert: Man denke z. B. an den Anfang des zweiten Rigoletto-Aktes: Der Hofnarr dialogiert mit dem Mörder Sparafucile in freier Form, von einem Duett in klassischem Sinn ist hier keine Rede. Anschließend singt er den freien Monolog Pari siamo. Verdi, als Theatermann (die Charakterisierung stammt von ihm selbst!), wusste schon sehr früh, wann solche freien Formen dramaturgisch notwendig waren, er brauchte dazu keine Anleitung. Er kannte aber auch das Gesetz der Beschränkung und hätte nie endlose Monologe, wie die des Wotan im zweiten Walküre-Akt, komponiert.
Denn im Mittelpunkt der verdischen Musik steht immer die Melodie, und zwar eine echte, eingängige Melodie, nicht die «ewige Melodie» von Wagners Gnaden, die sich als endlose Deklamation entpuppte. Dass Verdis Melodien so populär wurden, dass schon kurz nach der Rigoletto-Premiere die meisten Drehorgelspieler La donna e mobile in ihrem Programm hatten, ist schließlich ein Kompliment. Die Drehorgel war das Radio der damaligen Epoche…
Und Verdis Melodien sind sangbar! Er hat nie gegen die Stimme geschrieben. Natürlich gibt es auch bei ihm außerordentlich schwierige Partien: den Otello etwa, oder die Leonora und den Manrico in Trovatore. Von der Titelpartie in Rigoletto ganz zu schweigen! Doch bei einer sorgfältigen Gesangsausbildung und entsprechender Geduld sind auch diese Rollen ohne Schaden zu meistern. Wer natürlich zu Beginn seiner Karriere schon den Otello singen will, ist selber schuld oder — was häufiger der Fall ist – er wurde schlecht beraten.
Robert Merrill war einer der besten Rigolettos des 20. Jahrhunderts; als man ihm die Rolle erstmals anbot, lehnte er ab, trotz großer Versuchung. Er fühlte sich noch nicht reif – ein Beispiel für alle jungen Sänger. Die Ansprüche einer Rolle wie Tristan oder Tannhäuser sucht man bei Verdi vergeblich… zum Glück!
Viel geschmäht wurde immer wieder Verdis Instrumentation. Natürlich hat sie nicht die Komplexität, die Wagner auf diesem Gebiet erreicht hat. Auch benutzt er das Orchester nicht als psychologische Erklärungshilfe für das Geschehen auf der Bühne. Verdi will Klänge schaffen, die zu der Stimmung des Moments passen, will in den Instrumenten die kantable Schönheit der Stimmen mitleben lassen. Wie gut er mit Orchesterfarben eine Situation charakterisieren kann, zeigen viele Beispiele. Da wäre wieder die Sparafucile-Szene zu erwähnen, oder die Celli am Anfang des Liebesduetts zwischen Otello und Desdemona. Die kombinierten Klangfarben des Orchesters und der zwei tiefen Stimmen in der Szene zwischen Philipp II. und dem Großinquisitor in Don Carlos gehören zum Eindrücklichsten – und Erschreckendsten! — was je für die Opernbühne komponiert wurde.
Der oft – z. B. von George Bernard Shaw – benutzte Ausdruck vom Orchester als «riesige Gitarre» ist pure Bosheit, es sein denn, man meint damit eine rhytmisch klare Begleitung für gewisse Melodien (Un di felice aus Traviata, die zwei Canzonen des Herzogs aus Rigoletto u.a.). Wem käme es in den Sinn, die Walzerbegleitungen bei Johann Strauß zu verdammen?
Kein Geringerer als der Komponist Sir Edward Elgar hat im Übrigen bemerkt, diese Art Begleitung würde genau richtig klingen und den Sänger unterstützen. Elgar bezog diese Bemerkung zwar auf Rossinis Stabat Mater, sie gilt jedoch genauso für die Musik Verdis.
Dass die beiden Komponisten auch als Persönlichkeiten ganz verschieden waren, kommt dazu: Der arrogante, selbstsüchtige, rücksichtslose Karrierist und Profiteur Wagner, der bescheidene, zurückgezogene, oft kauzige aber auf großzügiste Art wohltätige Verdi. Das gleiche Geburtsjahr – mais quelle différence!
Eine Begegnung
Aus der Autobiographie «Aus meinem Leben» von Eduard Hanslick (zitiert nach der Bärenreiter Ausgabe von 1987). Der berühmte Kritiker und Musikästhet berichtet über eine Begegnung in Rom, anläßlich einer Falstaff-Aufführung am 15. April 1893. Die «Jugendsünden» beziehen sich auf Kritiken, die Hanslick in seinen frühen Jahren geschrieben hatte. Seine Liebe zu Verdi erwachte erst später, nach der Begegnung mit Un ballo in maschera.
Die schlichte Herzlichkeit mit welcher Verdi – hier so gut wie unnahbar für jeden Fremden – mich empfing und begrüßte, hat mich, der ich manche Jugendsünde gegen ihn auf dem Gewissen habe, tief bewegt. Es leuchtet etwas unheimlich Mildes, Bescheidenes und in der Bescheidenheit Vornehmes aus dem Wesen dieses Mannes, den der Ruhm nicht eitel, die Würde nicht hochfahrend, das Alter nicht launisch gemacht hat. Tief gefurcht ist sein Gesicht, das schwarze Auge tiefliegend, der Bart weiß – dennoch läßt die aufrechte Haltung und die wohltönende Stimme ihn nicht so alt erscheinen. Als ich ihm die allgemeine Verwunderung über das Erscheinen seines «Falstaff» schilderte, antwortete Verdi, es sei zeitlebens sein Lieblingswunsch gewesen, eine komische Oper zu schreiben. «Und warum haben sie es nicht getan?» — «Weil man nichts davon wissen wollte».
Dazu muss man ergänzend erwähnen, dass Verdis zweite Oper, Un giorno di regno (1840), sein bisher einziger Versuch im Buffo-Fach, ein katastrophaler Misserfolg gewesen war…
Verdi-Klänge aus der Vergangenheit:
In der Frühzeit der Tonaufzeichnung war Verdi besonders populär – ein Glück für die Nachwelt! Wir besitzen sogar Aufnahmen von zwei Sängern, die bei Verdi-Uraufführungen mitgewirkt haben: Victor Maurel war der erste Jago und der erste Falstaff – aus beiden Werken hat er kurze Ausschnitte verewigt. Der stimmgewaltige Francesco Tamagno sang bei der Weltpremiere den Otello. Seine Aufnahmen von Esultate und Ora e per sempre addio sind geradezu überwältigende Dokumente (1903 und nochmals 1905 eingespielt)
A propos Otello: Caruso hat die Rolle nie auf der Bühne gesungen; er fand, man könne diese Figur nicht vor dem Alter von 50 Jahren singen. Leider ist er 1921, mit 48, gestorben… Im Studio hat er jedoch zwei Szenen aufgenommen: das Ora e per sempre (1910) und das Schwurduett mit dem ebenfalls legendären Bariton Titta Ruffo als Jago. Das Duett wird zum Duell, und dem Hörer läuft es kalt über den Rücken! Natürlich gibt es zahlreiche weitere Verdi-Aufnahmen mit Caruso. Viele davon sind Sternstunden der Plattengeschichte. Es lohnt sich, die Ausgaben der Firmen Pearl oder Naxos zu kaufen. Im Gegensatz zu einigen anderen Überspielungen stimmen dort die Abspielgeschwindigkeiten!
Eine fast unauffindbare Rarität ist das Duett Gilda-Herzog (E il sol dell›anima) aus Rigoletto, eine 1923 aufgenommene Edison Diamond Disc, ein Wunder an Gesangskultur und Empfindsamkeit. Die Interpreten sind Anna Case und Ralph Errole.
Besondere Leckerbissen sind die Duette zwischen der Sopranistin Amelita-Galli-Curci und dem Bariton Giuseppe de Luca, Ausschnitte aus La Traviata (1918) und Rigoletto (1927).
Mario Laurenti (1890–1922) besaß eine wahrhaft berückende Baritonstimme und hätte wohl eine glanzvolle Karriere gemacht, hätte nicht eine Meningitis ihn mit 32 Jahren hinweggerafft. Er war in lyrischen Szenen ebenso überzeugend wie in dramatischen. Dies kommt seinen Verdi-Aufnahmen besonders zugute, insbesondere in der Szene des Rigoletto (Cortigiani). Laurenti nahm ausschließlich bei Edison auf, seine Aktivität im Studio erstreckte sich von 1918–1922.
Arturo Toscanini, der Verdi persönlich gekannt hat, ist ein Bindeglied zwischen zwei Epochen. Traviata, Ballo in maschera, Otello, Falstaff und den letzten Akt von Rigoletto hat er für Radioaufnahmen dirigiert. Diese Dokumente sind alle auf CD erschienen, Aida sogar als Konzertmitschnitt auf DVD. Die Energie, ja, das Feuer des alten Maestro sind schier unglaublich, auch wenn einige Stellen recht verhetzt sind und den Sänger(inne)n kaum Zeit zum Luftholen lassen! Die Hitze des Gefechtes…
Diese Auswahl ist natürlich winzig klein, und es gibt der Schätze noch viel mehr. Ich habe mit Absicht keine Bestellnummern angegeben; es existieren meist verschiedene Überspielungen, die oft so schnell aus den Katalogen verschwinden, wie sie aufgetaucht sind. Entsprechend wechseln die Nummern. Man wende sich also vertrauensvoll an die wenigen Schallplattenhändler, die es noch gibt.
Foto: zVg.
ensuite, November 2013