Von Dr. Regula Stämpfli - Als ich im Jahre 2007 Medien, Codes und Populismus mit der grossen Denkerin Hannah Arendt erklärte («Die Macht des richtigen Friseurs»), stiess ich auf akademisches Unverständnis und mediales Misstrauen. Elf Jahre später ist alles anders. Hannah Arendt ist der Philosophiestar der Zeit, ihre eingängigen Zitate wie «Nur die Gewalt ist stumm» oder «Die Pflicht zum Ungehorsam» haben schon Meme-Charakter. Die Deutschen vergöttern geradezu die von ihnen vertriebene Philosophin, die, wäre es nach teutonisch «rechten» Dingen zugegangen, in einem Massenvernichtungslager vergast worden wäre. Die deutsche Verehrung für Hannah Arendt bezieht sich meistens auf «Eichmann in Jerusalem». Den Mördern von damals passte der Satz: «Die Banalität des Bösen». Irrigerweise meinten viele damals und heute, dass der Satz, den Arendt so nie formuliert hatte, impliziere, das Böse könne «allen» geschehen.
Dabei meinte Hannah Arendt in «Eichmann in Jerusalem» genau das Gegenteil. Der Bericht ist ein heftiges Plädoyer für die Verantwortung des Einzelnen und des Kollektivs. Es ist eindringliches Warnen vor jeder «Banalität» im Sinne von Anpassung und vor der «Gedankenlosigkeit» im Sinne eines vollständig fehlenden inneren und kritischen Zwiegesprächs. Die Schärfe von «Eichmann in Jerusalem» gegenüber dem Zivilisationsbruch ist unüberhörbar. Der industrialisierte Massenmord, so Arendts Argumentation, konnte nur deshalb geschehen, weil sich die meisten Menschen als Einzelne und im Kollektiv als äusserst banale Helfershelfer der totalitären Vernichtungsmaschinerie entpuppten. Dies war die «Banalität des Bösen». Arendt legitimierte mitnichten die Täter oder gar deren Normalität, im Gegenteil. «Eichmann in Jerusalem» kann durchaus auch als fulminante Abrechnung mit einer sehr beliebten deutschen Weinerlichkeit, Obrigkeitsgläubigkeit, mit dem Sauberkeit- und Ordnungswahn gelesen werden. «Zu Hitler fiel ihnen was ein! Und zum Teil ungeheuer interessante Dinge! Sie gingen ihren eigenen Einfällen in die Falle.» (Hannah Arendt im Gespräch mit Günter Gaus) Dass «Eichmann in Jerusalem» vor allem von den Tätern übernommen wurde, ist bis heute tragisch und dem Umstand geschuldet, dass Arendt mit ihrer Analyse sehr früh und sehr hart urteilte und gegenüber den Opfern einiges von der «Menschlichkeit in finsterer Zeit» (Lessingrede von Arendt) vermissen liess.
Der Hype um Hannah Arendt, die in den französischen und deutschen Medien jahrelang lediglich als Geliebte von Martin Heidegger erwähnt wurde, zeigt, dass vielen Intellektuellen auch in der Gegenwart viel zu oft «ungeheuer interessante Dinge» zu völlig bösartigen Banalitäten einfallen. Glücklicherweise gibt es aber Ausnahmen in den vielen Fehlinterpretationen von Hannah Arendt und ich möchte Ihnen zwei davon vorstellen.
«Die Freiheit, frei zu sein», herausgegeben von Thomas Meyer, ist die Übersetzung eines Essays von Hannah Arendt aus dem Jahr 1963 und ein Vortrag aus dem Jahr 1967. 2017 wurde der Text von Jerome Kohn online veröffentlicht und dem Verlag dtv gelang damit ein Spiegel-Bestseller. Entscheidend ist dabei der Abschnitt über «Die Freiheit von Not» – ein Privileg, das über die Jahrhunderte hinweg nur einem kleinen Prozentsatz der Menschheit zustand. Arendt versteht unter der «Freiheit von Not» die eigentliche Voraussetzung für Politik. Es geht darum «die Menschen zu befreien, damit sie frei sein können». (S. 26/27) Der schmale Band «Die Freiheit, frei zu sein» richtet sich aber – ausser dem Titel – immer noch stark an Arendt-Spezialisten. Dies kann man auch von Jana V. Schmidts «Arendt und die Folgen» behaupten. Dennoch ist ihr schmaler Band sehr lesenswert. Schmidt erläutert Arendts Denken, um sich poetisch der verantwortungsvollen Politik und dem demokratischen, pluralistischen Handeln zu nähern. Schmidt widmet sich mit sehr sprechenden Beispielen dem «vielfältigen Sprechen von Arendt» und den praktischen politischen Folgen. «Verstehen können wir Arendts Texte nämlich nicht, indem wir uns ihre Begrifflichkeiten aneignen, sondern indem wir eigene Sprechweisen erfinden, die der Arendts begegnen.» (S. 127)
Die Gemeinschaft von Menschen und Dingen steht bei Arendt im Zentrum. Es ist eine Gemeinschaft unter Gleichen im öffentlichen Raum. In der Privatheit gibt es keine Gemeinschaft, sondern meist nur Zwang. Identitäts-Aktivistinnen finden bei Hannah Arendt keine Unterstützung. Besonders eindrücklich dafür ist der Briefwechsel mit dem grossen US-Schriftsteller James Baldwin. Dieser erzählt in seinem berühmten New Yorker Artikel «Letter from a Region in My Mind» von der Situation der schwarzen Bevölkerung. Er beschreibt darin die grossen, alltäglichen Tugenden der Unterdrückten, die sich in Grosszügigkeit, gemeinsamen Essen, grosser Solidarität von Mensch zu Mensch und vor allem in der Liebe auszudrücken vermag. Die Philosophin Hannah Arendt widerspricht ihm in der ihr sehr eigenen analytischen Art: «Was mir in Ihrem Artikel Angst gemacht hat, ist das Evangelium der Liebe, das Sie da zum Schluss verkünden. Der Politik ist die Liebe fremd und wenn sie sich darin einmischt, wird nichts erreicht als Heuchelei. All die Eigenschaften, die sie an der schwarzen Bevölkerung hervorheben: ihre Schönheit, ihre Fähigkeit zur Freude, ihre Wärme und ihre Menschlichkeit sind altbekannte Eigenschaften aller unterdrückten Menschen. Sie entstammen dem Leid und sind der stolze Besitzer aller Parias. Leider überdauern sie die Stunde der Befreiung um keine fünf Minuten.» (S. 3) Besser kann man die aktuelle politische Situation, die sich durch fiktive Frauensolidaritäten und andere soziologische Kategorien laviert, nicht kommentieren. Liebe hat in der Politik nichts zu suchen. Recht und Gesetz schon. Aber in allererster Linie der öffentliche Raum, der in jedem Fall Gerechtigkeit garantiert.
Jana V. Schmidts «Arendt und die Folgen» leistet einen wichtigen Beitrag für ein besseres Verständnis und für die Aktualität von Arendt in der heutigen Zeit. Die Dozentin an der California State University und zeitweilige Fellow am Arendt Center for Politics and Humanities im Bard College hat ein sehr poetisches Denkbüchlein zu Hannah Arendt verfasst. Sie lädt uns Leserinnen und Leser dazu ein, Demokratie und Politik nicht nur zu denken, sondern sie unbedingt mitzugestalten. Wer Arendt verstehen will, steht – so Jana V. Schmidt – immer zwischen eigenem Denken, Widerspruch in sich selbst und der Kommunikation mit der Wirklichkeit. Hannah Arendts Denken ist ein «flüssiger Zwischenraum: ein Zimmer zum Durchgehen». (S.79)
«Ganz Zeitgenossin, keiner Partei, nur der Wirklichkeit verpflichtet, liefert die politische Theoretikerin ein zeitlos anmutendes Plädoyer für aktive Wachsamkeit. Eine Wachsamkeit, die sich sowohl der Möglichkeiten als auch der Gefährdungen von Revolutionsversprechen und Freiheitsutopien bewusst ist.» (Thomas Meyer)
Jana V. Schmidt, Arendt und die Folgen, Stuttgart 2018.
Hannah Arendt, Die Freiheit, frei zu sein. Mit einem Nachwort von Thomas Meyer, München 2018.
Dr. phil./Dipl. Coach Regula Stämpfli ist Politologin und Bestseller-Autorin («Die Vermessung der Frau»).