Von Antonio Suárez Varela - Im November feierte die Swiss Jazz School (SJS) ihr 40-Jahr-Jubiläum. Die Berner Jazzschule ist eine der ältesten Institutionen ihrer Art in Europa. Die 59-jährige amerikanische Jazzgesangslehrerin Sandy Patton unterrichtet dort seit über vierzehn Jahren. Im Gespräch äussert sie sich über ihre Lehrmethoden, ihren künstlerischen Werdegang und die Unterschiede zwischen europäischem und amerikanischem Jazz.
Die Swiss Jazz School (SJS) feiert zurzeit ihr 40-jähriges Bestehen. Sie unterrichten an dieser Schule seit 1993. Sind Sie stolz darauf, Teil dieser Ausbildungsstätte zu sein?
Ja, sehr sogar. Es ist die zweitälteste Jazzschule Europas. Mir wurde gesagt, sie sei die älteste, aber sie ist nur die zweitälteste. Die älteste europäische Jazzschule ist in Graz. An der Bewahrung des Jazz beteiligt zu sein, ist für mich eine Ehre und eine grosse Freude. Es ist einfach wunderbar, einige Leute zu kennen, die an der Gründung der Schule beteiligt waren und zu sehen wie sich diese im Laufe der Jahre entwickelt hat. Ich sehe mich als festen Bestanteil dieser Schule.
Sie sind Gesangslehrerin in der professionellen Abteilung der SJS. Hatten Sie viele Schüler, die es zu bekannten Jazzvokalisten gebracht haben?
Viele unserer Studenten sind in der Szene aktiv, wie zum Beispiel Myriam Nydegger, Joy Frempong oder Myria-Simona Poffet. Es gibt viele Studenten, die sich einen Namen gemacht haben. Sängerinnen wie Nadja Stoller zum Beispiel oder Musiker wie Colin Vallon oder Nicolas Perrin. Es ist deshalb gut zu wissen, dass ich ein klein wenig zu deren Karrieren habe beitragen können. Als ich hier an ng, initiierte ich einen Workshop namens «New Dimensions», weil die Studenten damals noch keinen Zugang zu Englisch‑, Bewegungs- oder Theaterschulungskursen hatten. «New Dimensions» hatte ich konzipiert, um diese Dinge zu fördern. Wir haben ferner folgende Produktionen realisiert: Die erste hiess «Broadway My Way», dann machten wir «Motown Goes Jazzy», «The Music of Rogers and Heart», «A Jazz Anthology» und «Trilogy Plus». Das Spektrum reichte von Spiritual bis Jazz und Hip-Hop, wie etwa bei «The Music of the Wiz», die Michael-Jackson-Version von «Der Zauberer von Oz». Die letzte Produktion hiess «Around the World in 80 Minutes». Wir besuchten dabei verschiedene Länder in unseren «Singers Nights». Diese Reihe dauerte etwa sechs Jahre und es entwickelte sich daraus eine kleine Szene im Musig Bistrot. Es läuft also einiges bei uns.
Was gefällt Ihnen besonders am Jazzunterricht?
Es gefällt mir, dass es Leute gibt, die sich die Jazzmusik zu eigen machen wollen, besonders die Sänger, weil es so viel Poesie sowohl in der Musik selbst als auch in den Songtexten gibt. Dass es also Studenten gibt, die all dies bereitwillig annehmen wollen, gibt mir ein sehr gutes Gefühl, denn in den Vereinigten Staaten rennen die Leute oft den Trends hinterher, sie wollen das historisch Gewachsene nicht aufrechterhalten. Darum denke ich manchmal, dass es hier in Europa mehr Unterstützung gibt für Jazz als in den USA, wo es den Leuten nur darum geht, was gerade hip ist.
Jazz ist eine der freiesten Kunstformen überhaupt, denn es gibt fast keine Grenzen für die freie Improvisation und Interpretation. Weshalb benötigen aufstrebende Musiker eine Schule, um sich den Jazz anzueignen?
Nun, sie müssen erst einmal die theoretischen Grundlagen der Musik kennen. Das ist bei jeder Musikform so, die man sich aneignen will. Man muss erst die Sprache des Jazz beherrschen. Es ist nicht bloss deshalb wichtig eine Schule zu haben, um diese Sprache den Studenten beizubringen, sondern auch um ihnen zu helfen, andere Wissensgebiete zu erschliessen. Nur so bekommt man das Selbstvertrauen und die notwendige Hartnäckigkeit, um die Ausbildung auch zu beenden, denn der Wettbewerb ist hart.
Wie lange dauert die Ausbildung in der Regel?
Nun, zurzeit ändert sich alles wegen der Bologna-Reform. Bisher dauerte es vier Jahre bis man das Diplom hatte, doch jetzt benötigt man drei Jahre für den Bachelor- und vier Jahre für den Master-Abschluss.
Es gibt eine Menge Jazzmusiker, welche die Jazzschulen meiden, weil sie es bevorzugen, ihre Kunst auf der «Strasse» und in den Clubs zu zeigen. Steht eine Schule wie die SJS nicht im Widerspruch zur Philosophie des Jazz an sich?
Nein, weil wir sehr viele Veranstaltungsorte den Jazzstudenten bereitstellen. Nur das zählt. Deshalb brauchen Sie keine Strassenmusiker zu sein. Wir haben die «Singers Nights», die Workshop-Konzerte am Montagabend und die Jam-Sessions. Wir stellen Plattformen bereit für weitere Produktionen und bieten den Studenten eine Menge Möglichkeiten an, um öffentlich aufzutreten. Manchmal gibt es mehr Jazz in Bern als in New York. Man kann Jazz jeden Abend hören in Bern, an manchen Abenden sogar zweimal. Da ist einmal der Marians Jazzroom, der Montag im Bierhübeli, die Mahogany Hall, dann das Musig Bistrot und das Sous-Soul usw. usf. In Bern gibt es daher jede Menge Möglichkeiten für Jazzstudenten. Ich denke, dass Studium und Clubauftritte miteinander vereinbar sind, womit man das Beste von beiden Welten vereinen kann.
Dann ist also die Vernetzung mit den Veranstaltern sehr eng?
Ja, die ist sehr gut. Doch viele Studenten wollen nicht nur auftreten, sie wollen in ihrem Studium auch lernen wie man arrangiert und komponiert.
Wie viel Gebühren bezahlt ein Student der SJS für ein Studiensemester?
Nun, ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich denke, dass es sehr billig ist im Vergleich zu Amerika. (Lacht) Ich denke, sie bezahlen zwischen 500 und 700 Franken pro Semester. Das ist unerhört wenig. Vor einigen Wochen war ich in Salzburg, wo man mir erzählte, dass man dort pro Semester nur 350 Euro bezahlt. In den Vereinigten Staaten ist das ganz anders. Um dort an der Universität studieren zu können, muss man ein Darlehen aufnehmen, wenn man nicht reich ist. Und dieses muss man nach Beendigung des Studiums dann zurückbezahlen. Manchmal gibt es zwar auch andere Ausbildungsförderungen und Stipendien, doch davon gibt es nicht gerade viel. Dies ist eine Schande, denn dadurch vergrössert sich die Bresche zwischen den Vermögenden und jenen, die nichts haben.
Dann erhalten also viele Studenten der SJS Stipendien?
Viele erhalten auch Stipendien und ich hoffe, dass sie wissen, wie glücklich sie sich schätzen dürfen. (Lacht)
Die SJS hat den Ruf, eine traditionelle Bebop-Schule zu sein. Wie sehen Sie das?
Ich denke, dass dies bis zu einem gewissen Grad zutrifft. Doch ich denke auch, dass dies notwendig ist, denn wenn man die Tradition nicht kennt… Man muss die Geschichte des Jazz kennen, um die Zukunft gestalten zu können. Jene Leute, die öffentlich auftreten und frei improvisieren wollen, müssen zuerst die Innenseite des Jazz kennen. Unsere Schule hat vielen Studenten ein breites Fundament mit auf den Weg gegeben, um sich auf allen Gebieten des Jazz zu behaupten. Sie verfügen über die wichtigen Grundlagen, vermittelt durch einen gut ausgebildeten Lehrkörper.
Worin besteht Ihr Hauptaugenmerk beim Unterricht? Passen Sie Ihre Lehrmethoden den individuellen Bedürfnissen der Studenten an?
Dies ist eine sehr gute Frage, denn die wird nie gestellt. Das Singen ist eine sehr persönliche Angelegenheit. Ich habe eine Vorschlagsliste verschiedener Repertoires, die abhängig ist vom jeweiligen Semester der Absolventen. Jedem Studenten gebe ich sogenannte «Designer-Lektionen», denn jeder Student bedarf verschiedener Dinge auf den unterschiedlichen Stufen der Ausbildung. Man muss ziemlich flexibel sein. Die Gesangstechnik ist das Wichtigste. Man muss wissen, wie man atmen muss. Doch jeder Student singt und interpretiert einen Song anders. Im Unterschied zu den Instrumentalisten muss ein Vokalist in erster Linie Liedtexte vortragen. Wichtig ist auch die Phrasierung der Songtexte. Es gibt so viele Dinge, die man beachten muss, deshalb müssen die Lehrmethoden den momentanen Bedürfnissen der Studenten angepasst werden. Das alles macht meine Arbeitsweise aus.
Arbeiten Sie vorwiegend mit Jazzstandards oder auch mit Eigenkompositionen?
Beides, sowohl Standards wie eigene Lieder. Ich helfe den Studenten beim Songtexten oder korrigiere ihre Entwürfe. Doch am Anfang arbeiten wir immer mit Standards.
Welches Repertoire ist momentan am beliebtesten bei den Studenten?
Das ist schwer zu sagen, denn dies hängt davon ab, in welchem Semester sie sich gerade befinden. Aber viele mögen zurzeit das Repertoire von Interpreten wie Michael Bublé und Kurt Elling, die einige sehr interessante Arrangements gemacht haben von alten Standards. Viele singen «Blame It On My Youth» oder Bebop. Der Rahmen ist sehr weit gesteckt. Es gibt eigentliche keine Favoriten. Vor einigen Jahren wollten viele «Panonica» singen, weil Carmen McRae damals gerade eine CD herausbrachte mit Songs von Thelonious Monk. Die Liste der beliebtesten Songs ändert sich ständig.
Und welche Komponisten sind besonders beliebt?
Nun, bei den Komponisten sind es vor allem Antonio Carlos Jobim und Ivan Lins. Die sind immer sehr wichtig. Dann natürlich auch Duke Ellington, Thelonious Monk und Charles Mingus, wenn es um die Basics des Jazz geht, und Ella Fitzgerald sowie Sarah Vaughan für den Gesang. Neuerdings gibt es da viele neue Sängerinnen wie Jane Monheit. Eine Sängerin, die ich besonders mag, ist Tierney Sutton, die ist ziemlich gut.
Wie eng ist eigentlich das Arbeitsverhältnis zwischen den verschiedenen Lehrern der SJS? Treffen sie sich untereinander regelmässig, um sich auszutauschen?
Ja, von Zeit zu Zeit. Bei mir ist es so, dass das Verhältnis zwischen meinen Studenten und mir sehr eng ist.
Gibt es keinen Terminplan für Lehrersitzungen?
Doch, manchmal schon. Wir haben im Dezember wieder ein Meeting. Zurzeit sind wir daran, unsere Projekte für Januar aufzugleisen. Es ist ständig etwas los bei uns.
Verfolgen Sie auch interdisziplinäre Projekte mit anderen Lehrern?
Oh ja, soeben ist gerade meine neue CD erschienen. Sie heisst «Painting Jazz» und entstand in Zusammenarbeit mit meinem Lehrerkollegen und Bassisten Thomas Dürst. Wir führen dieses Semester gemeinsam einen Workshop mit zwei Bassisten und vier Sängern. Es gibt also durchaus Team- und Gruppenarbeiten, die zurzeit laufen.
Sie leben in Bern seit 1992. Was mögen Sie an dieser Stadt?
Ich mag Bern, weil es so klein ist. Man kommt praktisch überall zu Fuss hin. Und das Leben ist einfach. Sobald man jemanden kennengelernt hat, kennt man sich, wie zum Beispiel den Taxifahrer oder den Kioskverkäufer. Obwohl Bern eine grosse Stadt ist, mag ich dieses typische Kleinstadtambiente sehr.
Kehren Sie hin und wieder auch in die Heimat?
In der Regel fliege ich ein- oder zweimal im Jahr in die USA. Ich hatte im Mai zwei Konzerte und blieb ein paar Tage in New York. Das reicht mir. (Lacht)
Vermissen Sie das Leben in den Staaten denn nicht?
Nein, ich vermisse es nicht. Ich habe Satellitenfernsehen. Ich empfange alle englischsprachigen Kanäle, wenn mir danach ist.
Sie lebten auch eine Zeitlang in Frankreich, bevor Sie in die Schweiz kamen. Welche Engagements hatten Sie eigentlich in Paris und an der französischen Riviera?
Ich trat auf in einigen Clubs und Festivals in Nizza und andernorts. Beim Jazzfestival in Marseille traten wir als Vorgruppe von Wayne Shorter auf. Dann spielten wir auch in einigen Clubs an der Côte d’Azur. Und in Paris trat ich im Hotel Meridian auf. Mit 28 Jahren war ich zum ersten Mal in Europa, damals noch mit dem Lionel Hampton Orchestra. In fünf Wochen hatten wir 31 Shows in sechs verschiedenen Ländern. Auch am Berner Jazz Festival war ich damals im Jahr 1977. Ich habe noch Bilder von mir aus jener Zeit, unter anderem eines in der Drahtseilbahn beim Marzili. Ich hätte damals nie gedacht, dass ich einmal hier leben würde. Das ist schon merkwürdig.
Sie sind eine sehr versierte afroamerikanische Jazzsängerin und kennen den Jazz sowohl dies- wie jenseits des Atlantiks. Wo sehen Sie die grössten Unterschiede zwischen Europa und Nordamerika?
Nun, ich denke die Sprache kann ein Problem sein, denn viele europäische Vokalisten schaffen es oft nicht, die Sprache zu verinnerlichen, obschon sie meist die Aussprache beherrschen. Dies ist aber wichtig, um Emotionen auszudrücken, die in der Poesie des Songs enthalten sind. Manchmal fehlt ein wenig das Feeling. Deshalb habe ich einen Kurs entwickelt, um den Leuten zu helfen. Es gibt Länder, wo die Leute etwas zurückhaltender sind als in anderen. Für die Zukunft ist es wichtig, dass die Studenten den emotionalen Aspekt der Sprache und die Songtexte besser zu erfassen lernen. Vielfach sind sie nicht gewillt, ihre Gefühle mit den Händen auszudrücken. Das ärgert mich ungemein! (Lacht) Sie lassen ihre Hände hier (streckt ihre Arme steif nach unten) oder halten den Mikrofonständer, was natürlich völlig unnötig ist. Deshalb ist es wichtig, die Fähigkeit zu erlangen, sich zu öffnen und echte Emotionen zu zeigen. Jeder Song ist für mich ein kleines Theaterstück. Und wenn man wirklich das ausstrahlt, was man singt, dann wird es das Publikum spüren.
Und auf einer allgemeinen Ebene? Wo sehen Sie die grössten Unterschiede zwischen Europa und Amerika im Jazz? Viele Musiker sagen ja, dass man in Europa etwas innovativer ist als in den USA… Sehen Sie das auch so?
Ich denke nicht, dass man hier viel innovativer ist. Es ist einfach so, dass der europäische Jazz den emotionalen Aspekt der Musik oft nur ungenügend erfasst, unabhängig davon, ob es sich nun um gesungenen oder instrumentellen Jazz handelt. Europäer haben das Bedürfnis, sich den Jazz anzueignen und was Eigenes daraus zu machen, was ich sehr gut finde, denn so wird der amerikanische Jazz perpetuiert. Doch man kann das eine ohne das andere nicht haben.
Finden Sie, dass es dem europäischen Jazz an Emotionalität mangelt?
Ich denke nicht, dass es ihm daran mangelt. Benutzen Sie dieses Wort nicht! (Lacht) Vermutlich eher, dass er nicht jenen Grad der Offenheit erreicht hat, der notwendig ist, um offen die emotionalen Bindungen zum Repertoire auszudrücken, ob es sich nun um Jazz mit oder ohne Gesang handelt. Es muss sich nicht notwendigerweise um ein gesungenes Stück handeln.
Sie sind nicht nur Jazzlehrerin, sondern auch Künstlerin. Sie haben mit einer ganzen Reihe von sehr renommierten Jazzmusikern zusammengearbeitet. Sie haben gesagt, dass die Zeit mit Lionel Hampton für Sie gleichzeitig eine Art Jazz‑, Entertainment- und Lebensschule war. Waren diese drei Jahre entscheidend für Ihre weitere künstlerische Entwicklung?
Oh ja, absolut. Daraus ergaben sich nicht nur neue Chancen für mich. Ich gelangte auch an einen Punkt, wo ich mich hinterfragen musste, um dafür zu sorgen, dass ich an das gelangen konnte, was ich noch brauchte, um besser zu werden. Diese Zeit hat mir neue Lebensformen und neue Kulturen nähergebracht. Es war aufregend zu sehen, wie das Geschäft auf diesem Level läuft, denn es war ein sehr hoher Level. Für mich waren es Lehrjahre.
Wann war diese Tour genau?
Von 1976 bis 1979. Und damals war Frankie Dunlop der Schlagzeuger. Er war bereits bei Thelonious Monk Drummer. Auch der Saxophonist René McLean und Curtis Fuller waren damals in der Band.
War diese Zeit für Sie der Karrierestart?
Ich sang schon früher, doch in jener Zeit gelang mir der Durchbruch.
Was für Musik machten Sie, als Sie noch sangen für «Face of the Earth» und anschliessend für die eigene Band Spirit? War es Vocal Jazz?
Nein, es war eher ein Mix zwischen Vocal Jazz und R’n’B, in gewisser Weise eine Art poppiger Smooth Jazz, obwohl es diese Bezeichnung damals für diesen Musikstil noch nicht gab.
Erzählen Sie mehr über diese Zeit!
Als ich an der Howard University studierte, war es die Zeit von Sängern wie Donny Hathaway und anderer interessanter Leute. Wir waren zu viert in der Gruppe und hatten einen Generalmusikdirektor und jemanden, der uns die Harmonik beibrachte und solche Dinge. Wir hatten einige interessante Konzerte, unter anderem waren wir einmal die Vorband von The Supremes in Boston. Dann war ich bei einer anderen Gruppe namens Faith Hope Charity, die produziert wurde vom berühmten Produzenten Van McCoy, der übrigens den grossen Discohit «The Hustle» geschrieben hatte. Wir waren eine R‘n‘BGruppe. Erst später als ich in Washington D. C. lebte, gründete ich die Gruppe Spirit.
Wie erlebten Sie Ihre Kindheit und Jugendjahre? Sie wuchsen ja in einer sehr musikalischen Familie auf…
Mein Grossvater war ein Trompeter und Schlagzeuger. Dann wurde er neunfacher Familienvater und musste einen zusätzlichen Job annehmen. Von diesen neun Kindern wurde einer Konzertpianist, ein anderer spielte Trompete und ein weiterer, mein Schwiegeronkel, spielte Bass. Meine Mutter sang gelegentlich in der Big Band meines Onkels. Das Haus war stets von Musik durchdrungen, von Klassik über Jazz zu Gospel und Pop. Ich hatte eine wundervolle Kindheit. In der Schule wurden auch einige kleinere Theaterstücke, Musicals und Talentshows organisiert. Als ich noch in der Highschool war, wurde eine meiner Cousinen Mitglied der Motown-Gruppe The Marvelettes. Wir gingen oft nach Detroit, um uns den Motown-Sound von Leuten wie Stevie Wonder und Marvin Gaye anzuhören. Deshalb war der Weg zu einer Karriere als Sängerin für mich praktisch vorgegeben.
Waren Sie ein Kind der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung?
Ja. Meine Schwester Gwen lebte in jener Zeit in Montgomery, Alabama. Sie beteiligte sich an der Bewegung.
Wie beteiligte sie sich?
Sie beteiligte sich als Mitglied des SNCC (Student Non-violent Coordinating Committee) als Protestlerin und Organisatorin. Sie organisierte die National Association of Black Students, welche Entschädigungszahlungen erhielt von der National Students Association. Hier ergibt sich ein interessanter Bezug zum Jazz, denn während der Zeit der Segregation in den Vereinigten Staaten war die Jazzbühne einer jener Orte, wo Weisse und Schwarze zusammenfanden. Jazzmusik war schon immer eine integrierende Kraft. Sie führte die Menschen unterschiedlicher Hautfarbe zusammen. Manchmal bin ich etwas besorgt, denn in Europa ist der Jazz eher eine exklusive Angelegenheit. Viele Leute sind sehr stark dem Konkurrenzdenken verhaftet. Wir müssen vorsichtig sein, denn Jazz ist eine Musik, die integriert und nicht ausgrenzt.
Dann denken Sie also, dass der Jazz in Europa ins Elitäre tendiert?
Ich denke fast, dass die Gefahr droht, dass er sich in diese Richtung entwickelt. Wir müssen aufpassen.
Sind Sie der Ansicht, dass der Jazz die weisse und schwarze Kultur in Amerika zusammenführte?
In der weissen Kultur war der Jazz einzigartig und vorherrschend zugleich. Als Weisse beschlossen, ein Teil davon zu sein, wurden sie von den Schwarzen mit offenen Armen empfangen. In den USA kopierten damals viele weisse Musiker Aufnahmen von schwarzen Musikern für ein exklusiv weisses Publikum. Damals wurde munter drauflos kopiert! Elvis Presley kopierte Otis Blackwell und die Blues Brothers um John Belusci und Dan Aykroyd waren nichts anderes als eine Kopie von Sam & Dave.
War dieses Kopieren im Jazz nicht so vorherrschend wie in der Popmusik?
Ich denke, dass Jazzer eine andere Mentalität haben. Die Jazzmusik ist auf einer theoretisch so hohen Ebene, dass man sich als Musiker sehr fest anstrengen muss. Jazz ist komplexer als Popmusik, deshalb war es beim Jazz nicht so wie etwa beim Rock ‘n‘ Roll oder Rhythm and Blues.
Dann waren die Jazzer generell etwas offengeistiger?
Oh ja, absolut, in jeder Lebensbeziehung. Sie waren echte Bohemiens. (Lacht) So wie Jack Kerouac und diese Leute.
Hören Sie sich auch andere Musik an ausser Jazz?
Ich mag die klassische Musik.
Und die Popmusik?
Nun, nur manchmal. Gewisse Dinge mag ich an der Popmusik, doch ich bin kein Mensch, der den ganzen Tag Radio hört. Ich mache das nicht.
Sie traten in der Schweiz bereits zweimal in einer Gospelgrossformation als Sängerin auf. Viele Sänger, gerade auch in den USA, schwören auf ihre Gospelwurzeln, weil sie dadurch den Weg zu einer Sängerkarriere gefunden haben. Weshalb ist Gospel für eine Gesangskarriere oft so wichtig?
Nun, ich denke nicht, dass es so wichtig ist für eine Jazzsängerkarriere. Für mich war es das nicht. Als ich Gospel sang, wollte ich etwas Neues ausprobieren. Es sollte eine Herausforderung sein. Am Gospel interessiert mich, mich emotional einer Musik ganz hingeben zu können, denn ich spüre diese Musik ganz stark. Als ich klein war, schlich ich mich bis zur Baptistenkirche, um mir diese Musik anzuhören, denn da gibt es so viele starke Gefühle. Mein Antrieb bestand darin, dieses Feeling zu haben. In Europa hingegen ist es aber eher geläufig, dass Rocksänger Jazzsänger werden wollen. Das macht mich einfach irre! Wenn Leute wie beispielsweise Rickie Lee Jones, die wirklich eine komplette Rocksängerin ist, das Gefühl haben, ihre Bestätigung darin finden zu können, einen Titel wie «Lush Life» zu interpretieren. Denn sie macht es nicht wirklich gut. Solche Dinge regen mich auf. Oder wenn Leute wie Phil Collins oder die Rolling Stones entscheiden, eine Sinatra-Show mit einer Big Band zu machen. Entschuldigung, aber das ist einfach zu viel des Guten…
… oder Sänger wie Rod Steward…
… oder Rod Steward, genau. Wir Jazzmusiker befinden uns in einem ständigen und immerwährenden Kampf. Wenn man etwas für den Jazz tun möchte, dann sollte man einem Jazzkünstler helfen. Jazz verfügt über eine ganz eigene Lebensphilosophie, Denk- und Lebensart. Deshalb ärgern mich solche Dinge ein wenig. (Lacht) Doch der Gospelgesang war für mich eine ganz natürliche Erweiterung meiner Interessen.
Ich danke Ihnen sehr für dieses anregende Gespräch, Frau Patton.
Ich habe zu danken.
Sandy Patton
wurde am 8. März 1948 in Detroit geboren. Sie wuchs in einer kinderreichen und sehr musikalischen Familie auf. Ihr Grossvater Frank Gray war ein bekannter Trompeter in den 1920er und 1930er Jahren und ihr Onkel Benjamin Gray ein international bekannter Konzertpianist. Auch viele weitere Familienmitglieder waren aktive Musiker. Patton begann noch während des Jazzgesangsstudiums an der Howard University in Washington D.C. eine professionelle Karriere als Sängerin in R’n’B‑Gruppen wie «Face of the Earth» und «Faith Hope Charity», bevor sie Mitte der siebziger Jahre ihre eigene Gruppe «Spirit» gründete. Nach ersten Erfolgen in der Clubszene der Stadt, wurde sie Mitglied des Lionel Hampton Orchestra, mit welchem sie in den folgenden drei Jahren durch Europa und Amerika tourte. Danach zog Patton nach Miami, wo sie zu zahlreichen Engagements in der Jazzszene und im Showbusiness kam. In den Endsiebzigern und frühen Achtzigern trat Patton an der Seite von Jazzgrössen auf wie Dizzy Gillespie, Jaco Pastorius, Mark Murphy, Paquito D’Riviera, Jimmy Woode, Al Grey, Junior Mance, Benny Bailey, Joe Haider, Buddy Tate, Scott Hamilton, Paul Kuhn oder Cab Calloway. Nach diversen Engagements als Workshopleiterin in Europa zog sie nach Marseille. 1992 kam sie in die Schweiz und begann ihre Arbeit als Gesangslehrerin an der SJS. Seither hat sie sieben Jazz- und Theatershows im Rahmen ihrer Workshopreihe «New Dimensions» produziert und sich in der Berner und Schweizer Szene einen Namen gemacht. Zurzeit tritt sie auf im Rahmen ihrer Konzeptshow «Sandy loves Sammy», eine Hommage an den 1990 verstorbenen Multiinstrumentalisten und Schauspieler Sammy Davis Jr. Ausserdem vertreibt sie ihre neue CD «Painting Jazz», die sie gemeinsam mit dem Bassisten Thomas Dürst aufgenommen hat.
CD: Sandy Patton, «Painting Jazz» (Sandstone / BFG Enterprises)
Bild: zVg.
ensuite, Dezember 2007