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“Katzenmusik können wir uns nicht leisten”

Von Luca D’A­lessan­dro - Die Stern­stunde erlebte Gio­van­ni Mirabassi aus Peru­gia als Siebzehn­jähriger: Damals bekam er die Gele­gen­heit, Chet Bak­er bei einem Auftritt am Jaz­zfes­ti­val Peru­gia zu begleit­en. Ein pur­er Zufall: Wenige Stun­den vor dem Konz­ert fühlte sich Bak­ers Pianist plöt­zlich krank. Für ihn musste ein Ersatz gefun­den wer­den. Mirabassi, der in der unmit­tel­baren Umge­bung des Fes­ti­vals der einzig ver­füg­bare Pianist war, wurde vom Fes­ti­val­man­ag­er aufge­fordert, in die Bresche zu sprin­gen. «Ich denke nicht im Traum daran, mich neben Chet Bak­er auf die Bühne zu stellen», war damals Mirabassis spon­tane Reak­tion. Er sah sich nicht berufen, mit einem der bekan­ntesten Trompeter der Welt ein Konz­ert zu geben. «Ausser­dem bekam ich nicht ein­mal die Zeit, mich auf den Gig vorzu­bere­it­en. Es ging alles so schnell.» Schliesslich liess er sich doch überre­den. «Während des Konz­erts war ich der­massen gestresst, dass ich das Gefühl hat­te, mir wür­den graue Haare wach­sen. Na ja, Chet war sehr zufrieden mit mir, schliesslich hat­te ich ihm das Konz­ert gerettet.»

22 Jahre sind sei­ther ver­gan­gen und Mirabassi geniesst schon fast selb­st den Ruf eines Chet Bak­er. Im Ver­lauf sein­er Kar­riere hat der preis­gekrönte Auto­di­dakt in unter­schiedlichen Beset­zun­gen gespielt. Kol­lab­o­ra­tio­nen mit dem pol­nis­chen Akko­rdeon­is­ten Andrzej Jogodzin­s­ki und dem Posaunis­ten Glenn Fer­ris sind nur zwei Beispiele.

Für die Pro­duk­tion des aktuellen Albums «Out Of Track» hat er sich mit dem Bassis­ten Gian­lu­ca Ren­zi und dem Drum­mer Leon Park­er zusam­menge­tan. Der Titel passt her­vor­ra­gend zum Inhalt: «Es ist die Fahrt auf einem Neben­geleise», sagt Mirabassi, «ein Über­gangsal­bum sozusagen; die näch­sten Pro­jek­te sind bere­its in Pla­nung.» Und ver­mut­lich wird dieses näch­ste Album wieder ver­stärkt der Tra­di­tion Mirabassis entsprechen. Schliesslich hat er einen Ruf als Exper­i­men­ta­tor zu vertei­di­gen. Dazu Gio­van­ni Mirabassi: «Nein, das würde ich so nicht unter­schreiben. Obwohl ‹Out Of Track› keine kom­plex­en Geschicht­en bein­hal­tet, bin ich nicht auf die schiefe Bahn der Jaz­z­s­tan­dards ger­at­en. Ich bin kein Spezial­ist von Ever­green-Titeln, genau­so wenig wollte ich meine Musik­erkar­riere darauf auf­bauen. Das Musik­busi­ness funk­tion­iert heute so, dass Stan­dards vor allem den Vätern des Jazz vor­be­hal­ten sind. Ich als junger Musik­er muss mich davon abkop­peln, son­st werde ich nicht wahr- und ern­stgenom­men. Deshalb habe ich fast nur in Pro­jek­ten mit­gewirkt, in denen ich meine Freude am Exper­i­men­tieren ausleben durfte. Sei­ther eilt mir der Ruf als Exper­i­men­ta­tor voraus.»

ensuite — kul­tur­magazin: «Out Of Track» ist aber kein solch­es Pro­jekt.

Gio­van­ni Mirabassi: Wie gesagt, es han­delt sich um ein Über­gangsal­bum. Ich habe es mit Gian­lu­ca Ren­zi und Leon Park­er einge­spielt. Uns ging es in erster Lin­ie darum, Spass zu haben.

Hast du mit ihnen zum ersten Mal gear­beit­et?

Nein, bere­its das Vorgänger­al­bum «Ter­ra Furiosa» ist in dieser For­ma­tion ent­standen. Nach Abschluss der Auf­nah­men gin­gen wir auf Tournee. Wir erlebten zahlre­iche span­nende Momente und beka­men richtig Spass am lock­eren Spiel. «Out Of Track» ist das Resul­tat unser­er Konz­ertrei­he, die Kirsche auf der Torte sozusagen. Die haben wir uns gegön­nt.

Was gönnst du dir als näch­stes?

Wahrschein­lich ein Liveal­bum.

Alleine?

Nein, mit den bei­den Jungs. Wir ver­ste­hen uns wirk­lich sehr gut. Ich würde sog­ar behaupten, dass die Zusam­me­nar­beit mit Leon und Gian­lu­ca das High­light mein­er Kar­riere ist. Wir sind eine magis­che Truppe. Die Dynamik in unseren Impro­vi­sa­tio­nen kommt aus diesem engen, sym­bi­o­tis­chen Zusam­men­halt. Ein gesun­der Ehrgeiz ist in jedem von uns enthal­ten: Jed­er will den anderen über­holen, und das macht das Ganze für den Hör­er span­nend und wirkt pro­fes­sionell.

Es wirkt nicht nur pro­fes­sionell, es ist es auch.

Aus musikalis­ch­er Sicht ja. Wenn jed­er auf der Bühne das spielt, was er mag, gle­ichzeit­ig aber das Gesamt­bild nicht auss­er Acht lässt, dann lässt sich das Resul­tat hören. Spon­taneität birgt aber auch Risiken. Wenn ich mich mit den Mit­musik­ern nur mäs­sig ver­ste­hen würde, kön­nte ich mich auf diese Art des Zusam­men­spiels nicht ein­lassen. Es ist ganz ein­fach: Um auf drei­hun­dert Kilo­me­ter pro Stunde beschle­u­ni­gen zu kön­nen, benötigt man ein Sportau­to und keinen Pfer­dewa­gen. Son­st kommt es zu Katzen­musik, und diese kön­nen wir uns nicht leis­ten.

Enri­co Pier­a­nun­zi, der bekan­nte römis­che Pianist, war auf deinem Weg zur Pro­fes­sion­al­ität eine zen­trale Fig­ur.

Er hat das vorgegeben, was ich heute auf der Bühne verkör­pere. Mein­er Mei­n­ung nach zählt er zu den ganz grossen Jazzern. Er hat das Genre in Europa mass­ge­blich geprägt. Ich sehe in ihm einen spir­ituellen Meis­ter, obwohl ich bei ihm nie Klavier­stun­den besucht habe. Durch das Hören sein­er Lieder wurde ich auf sein Tal­ent aufmerk­sam. Ich schätze ihn nicht nur als Musik­er, son­dern auch als Per­son.

Ver­mut­lich seht ihr euch inzwis­chen nicht mehr sehr oft. Seit Anfang der Neun­ziger­jahre leb­st du in Paris. Weshalb hast du dich für Nordeu­ropa entsch­ieden?

Ich war jung, als ich Ital­ien ver­liess. Ich wollte die Welt ent­deck­en und etwas erleben. Das ist das eine. Zum anderen hat­te ich keine Lust, Pre­mier­min­is­ter Berlus­coni weit­er zu ertra­gen. (lacht) Ich habe mir eine Ein­weg-Fahrkarte gekauft und bin in Paris Gare de Lyon aus­gestiegen.

Spürst du kein Heimweh?

Nein, nicht wirk­lich. Ich mag Ital­ien, aber Paris bietet mir so vieles. Viele mein­er Fre­unde tun es mir gle­ich: Sie lan­den in Paris und find­en das kul­turelle Eldo­ra­do. Wen wundert’s? In Ital­ien lässt sich keine ser­iöse Musik machen und es gibt da auch kaum Jazzer, die über die Lan­des­gren­zen hin­aus bekan­nt sind. Es sei denn, sie leben im Aus­land. Die Musik­branche in Ital­ien ist – wie soll ich sagen – nur auf ihre eige­nen Inter­essen aus. Klar, wer ist das schon nicht. Trotz­dem herrscht in Nordeu­ropa eine andere Men­tal­ität. Ich ziehe es vor, für diese Labels zu pro­duzieren. «Out Of Track» zum Beispiel ist bei Disco­graph erschienen.


Der Par­ti­sane unter den Pianis­ten
Gio­van­ni Mirabassi wurde 1970 im ital­ienis­chen Peru­gia geboren. Bere­its als Drei­jähriger brachte er sich die ersten Melo­di­en auf dem Klavier selb­st bei. Mit zehn standen ihm die Türen der Impro­vi­sa­tion weit offen. Während andere Kinder seines Alters Pop und Rock kon­sum­ierten, hörte er Plat­ten von Bud Pow­ell, Art Tatum, Oscar Peter­son und Jacky Byard. Später ent­deck­te er den ele­gan­ten Anschlag von Bill Evans und die elegis­chen Piano-Phan­tasien von Ken­ny Bar­ron, Chick Corea und Kei­th Jar­rett. Ihn faszinierten jedoch nicht nur Pianis­ten: Char­lie Park­er und Pat Methe­ny bee­in­flussten seine musikalis­che Entwick­lung eben­so wie der Tan­go von Astor Pia­zol­la, die Pop­musik von Elton John und die Klas­sik von Brahms und Bach. Eine sein­er wichtig­sten Inspi­ra­tionsquellen ist der römis­che Pianist Enri­co Pier­a­nun­zi: Obwohl Mirabassi bei ihm nie Klavier­stun­den genom­men hat, ist dessen Ein­fluss evi­dent.

Den Durch­bruch schaffte Mirabassi 2001 mit seinem Soloal­bum «Avan­ti», ein­er Samm­lung von poli­tis­chen Liedern und Rev­o­lu­tion­srhyth­men wie «Has­ta Siem­pre», «Les Chants des Par­ti­sans» oder «Imag­ine». Der Perug­in­er fühlt sich ein wenig als Rebell; ein­er, der die Poli­tik mit der Musik zu ver­schmelzen ver­mag. Seine poli­tis­che Gesin­nung ist offen­sichtlich. Die Heimat Ital­ien habe er aus Protest an der Regierung Berlus­coni ver­lassen, sagt er.

Heute lebt Mirabassi in Paris, wo er an diversen Pro­jek­ten mitar­beit­et. Dank seines Impro­vi­sa­tion­stal­ents, sein­er Spon­taneität und der melodis­chen Kraft wird er regelmäs­sig und gerne engagiert. Unter seinen Mit­musik­ern ist er beliebt, nicht zulet­zt wegen sein­er scherzhaften, umgänglichen Art. Er sel­ber beze­ich­net sich als ehrgeizig; als einen Pianis­ten, der sich seine beru­flichen Ziele immer wieder vor Augen führt und sich vom eingeschla­ge­nen Weg nicht abbrin­gen lässt. Nach Ital­ien wird ihn dieser Weg ver­mut­lich nicht mehr brin­gen, zumin­d­est habe er es gegen­wär­tig nicht vor. Paris biete sehr viel, keine andere Stadt könne dies kom­pen­sieren.

Disko­grafie
Dyade — En bonne et due forme (1996)
Archi­tec­tures (1998); Avan­ti! (2000); Dal Vivo! (2001); Pri­ma o poi (2005); Can­topi­ano (2006); Ter­ra Furiosa (2008); Out Of Track (2009); Ade­lante (Disco­graph, 2011); Viva Ver­di (CAM Jazz, 2012); No Way Out (CAM, 2015); Live in Ger­many (2017)

Bild: Gio­van­ni Mirabassi Trio (v.l.): Gian­lu­ca Ren­zi, Gio­van­ni Mirabassi und Leon Park­er / Foto: zVg.
ensuite, Juni/Juli 2009

Artikel online veröffentlicht: 21. August 2018