Von Lukas Vogelsang — Alle reden davon, es scheint ganz wichtig zu sein: Das Filmfestival Locarno. ensuite hat einen Selbsttest gemacht und wollte wissen, was diese Magie, von der überall so geschwärmt wird, bewirkt.
Nun, Locarno ist ein schönes Städtchen, und im Sommer hängt sich ein Festival an das andere. Locarno ist ein Ferienort – kaum schlägt das Wetter um, ziehen die Massen von dannen und es gibt Stau beim Gotthard. Die Grande Piazza ist ein grosser Dorfplatz mit ein paar Banken und ein paar Restaurants – hat aber nicht wirklich Charme. Da gibt vielleicht nur noch der steinige, High-Heels-unfreundliche Boden was her…
Wir sind am Freitag, 7. August, auf der Piazza eingetroffen. Es sind in der Tat viele billige Stühle da – einige brechen jeden Abend auseinander. Über 8 000 Besucher fasst der Platz bei einer Vorführung. Das ist imposant, vor allem wenn man vergeblich nach zusätzlichen Toiletten oder Abfalleimern sucht. Irgendwie hat die niemand subventioniert. Nach vier Stunden Kino ist das Mangelware. Zudem: Fast die Hälfe der Piazza ist für VIP-Gäste, Kulturförderer und Brancheninterne reserviert, das bezahlende Publikum sitzt erst ab der Hälfte des Platzes. Das beeindruckt. Auf dem Pressebüro drückte man uns einen 5 cm dicken Katalog in die Hände, ein paar Kurzprogramme und entliess uns zum Studium. Sprachlich muss man in Locarno erfinderisch sein.
Über 390 Filme werden in Locarno in zehn Tagen gezeigt. 18 davon sind in einem internationalen Wettbewerb. Eine böse Zunge meinte, dass diese Filme bei allen anderen Festivals abgelehnt wurden.
Es fällt auf, der Katalog hat einen elementaren Fehler: Die Filme können zwar schnell gefunden werden und Informationen über Regie und Inhalt sind rasch zur Hand. Aber es fehlt im Katalog eine Zeitangabe, wann die Filme gezeigt werden. Man muss also erst auf dem Tagesprogramm nachsehen, was läuft, danach im Katalog nachlesen, was für ein Film es ist, sich entscheiden, ob das einen interessiert oder nicht. Rennen oder baden gehen. Umgekehrt funktioniert es nicht: Wenn Sie einen tollen Film im Katalog finden, haben Sie ohne Hilfe keine Möglichkeit herauszufinden, wann dieser Film gezeigt wird. Es wird durch klangvolle Namen wie «Körpüdekiler», «Crips», «Hao Duo Da Mi», die einsam und ohne Hinweise auf einer Liste stehen, nicht einfacher.
Das Festivalgelände ist etwas unübersichtlich und wer zum ersten Mal kommt, verliert sich bald mal in den unbedeutenden Teilen dieses Städtchens. Das ist nicht weiter schlimm, es gibt da doch einiges zu entdecken. Zum Beispiel wurde in einem Gebäude eine Manga-Ausstellung gezeigt. Mangas, die japanische Comicwelle, waren auch Hauptgast an diesem Festival – also nichts wie rein. Doch die Ausstellung ist ein Witz und entpuppt sich als überdimensionierter Verkaufsladen eines örtlichen Buchladens. Das ist schändlich in die Hose gegangen – kein Wunder, dass nur drei Personen in den Räumen anzutreffen waren.
Die Präsenz vom Filmfestival ist lausig organisiert – draussen hängen vergilbte Fahnen, die Kassen und Informationsschalter sind mit zwanzig Meter langen Warteschlangen überlagert, auf der Grande Piazza muss man zwei Stunden vor Filmbeginn einen Stuhl reservieren und sitzen bleiben. Ein gemeinsames Festival gibt es nicht: Es gibt private Besucher und es gibt die Filmbranche — und das sind zwei verschiedene Gruppen. Wer nicht dazugehört, bleibt ohne Anschluss und isst kalte Pizza aus dem Migros-Restaurant bei der Piazza.
Von der versprochenen Magie haben wir nichts gefunden, wohl aber genug davon im Maggia-Tal oder am See. Meine Vermutung bestätigt sich auch in vielen Gesprächen: In Locarno macht man vor allem Ferien und zeigt sich zum Cüpli. Die meisten aus der Filmbranche sind eingeladen und können gratis in Hotels übernachten, das erklärt auch die emporgehobene Wichtigkeit. Aber überzeugt hat mich dieses Festival nicht – und die rückläufigen Besucherzahlen geben recht. Wir werden es sicher noch einmal versuchen – diesmal besser ausgerüstet und besser vorbereitet. Und vielleicht erhalten wir diesmal das Programm eine Woche im Voraus.
Mario Solari, Festivalpräsident, hat es in seiner Eröffnungsrede richtig gesagt: «Wenn wir stehenbleiben, sind wir tot!»
Bild: Gähnende Leere in der Nachmittagshitze / Foto: zVg.
ensuite, September 2009