Von Steffen Roth** — Lexikon der erklärungsbedürftigen Alltagsphänomene (V)*: Der Markt ist die heilige Kuh der bürgerlichen Gesellschaft. Vor ihr werden wir hergetrieben. Nur wohin? Die Antwort: auf Gemeinplätze, die keine Allmenden mehr sind. Es ist an der Zeit, drei von ihnen wieder zu betreten.
Was immer wir im Einzelnen über den Markt wissen oder nicht, in einem sind wir uns einig: Wenn wir über Markt sprechen, dann sprechen wir über Wirtschaft. Wir stellen uns konkrete Marktplätze vor oder abstraktere Gütermärkte, vielleicht auch Preisbildungsmechanismen, geldvermittelten Tausch oder die innere Umwelt der Wirtschaft. Die Idee nicht-ökonomischer Märkte verbietet sich dahingegen aus Gründen des Anstandes: Wer Märkte auch in Politik, Wissenschaft, Bildung oder Kunst verankern will, dem wirft man Marktfundamentalismus vor und meint damit, was sich auch ökonomischer Kolonialismus oder Neoliberalismus nennt. Vermarktlichung meint automatisch Ökonomisierung.
Nun gilt der Markt als ein Kind des 18. Jahrhunderts: Als sich dieses anschickte, über sich nachzudenken, da war der Markt schon da. Allerdings stand er nicht wie heute in der gefühlten Mitte der Gesellschaft, sondern trieb sein Unwesen in einer Art Wildnis. Über den Markt stolperte die Gesellschaft damals wie über Victor von Aveyron, einen der vielen Wolfsjungen der Zeit, dessen Lebensgeschichte François Truffot 1970 verfilmte. Auch der Markt gilt seither als ein enfant sauvage, dessen frühe Kindheit uns bedeutend weniger interessiert als das, was wir gegenwärtig als Fehlverhalten beobachten und mit mehr oder weniger sanfter Gewalt korrigieren wollen. So ist der Markt ein Resozialisierungsfall: Ordnungspolitische Rechtsberater, bürgerbewegte NGO, christliche Ethiker und wirtschaftskritische Wirtschaftssoziologen – sie alle stimmen mit den meisten von uns darin überein, dass der allzu freie Markt wieder sozial eingegrenzt werden muss. Einbettung nennt sich das neudeutsch: Der Markt soll wieder der Gesellschaft dienen, nicht umgekehrt. Die Frage ist nur: Welcher?
Vom Gemeinplatz. Eine der möglichen Urformen des Marktes stellt uns Hamilton Grierson vor: der Silent Trade. Der Anthropologe berichtet von Menschen, die den Schutz ihrer Stämme verlassen und sich fremden Stämmen annähern, um an markanten Orten zwischen den Siedlungsgebieten Gaben abzulegen. Dann ziehen sie sich zurück, um schliesslich wiederzukehren und zu sehen, ob die Gaben angenommen und wie sie allenfalls vergolten wurden. Wir verstehen so, wieso der Soziologe Max Weber den Markt als eine Form der Vergesellschaftung mit Ungenossen bezeichnet hat: Märkte regeln den Kontakt mit Fremden, und der fand in der Frühzeit auf neutralem Boden statt, bevor er in der Antike vor die Tore und schliesslich ins Zentrum der Stadtgesellschaft wanderte, von der ihn aber auch dann noch bewachte Grenzsteine trennten. Immer also ist der Markt ein neutraler Ort. Welcher der Tauschpartner soll daher entscheiden, wann diese Neutralität nützlich oder schädlich ist, und von wem sie einzubetten sei? Wir könnten uns also daran erinnern, dass der Markt nicht uns gehört. Der Markt ist immer ein «Uns». Er gehört uns. Und den Fremden. In diesen Gedanken können wir den Markt getrost betten.
Vom Gemeinplatz des Gemeinplatzes. Irgendwann wurden die Grenzen, die den Markt von Stadt und Staat trennten, übertreten. Was nach mehr Freiheit klingt, kehrte sich ins Gegenteil: Der Markt hatte nun den Regeln des Staates zu folgen. Die einstige Allmende verwandelte sich in einen Pachtgrund für jene, die bald nur noch eines im Sinn haben durften: Profit. Für den Marktzugang zahlt man seither. Seither kann nicht mehr jeder auf den Markt. Das muss man sich mal vorstellen. Ansonsten gibt es kein Muss. Das alles kann sich wieder ändern. Denn nicht die Allmende ist die Tragödie, sondern ihr Verschwinden.
Vom Gemeinplatz des wirtschaftlichen Gemeinplatzes. Bei Hannah Arendt können wir lesen, wie sich die Tragödie entwickelt hat: Ein Ort, auf dem Sokrates noch recht unbehelligt Hebammen nachstellen konnte, verwandelt sich in einen Ort der Verbote. Die kosten nicht nur die Freiheit der Fremden, sondern auch die der eigenen politischen Meinung, der Kunst und der Wissenschaft. Eine damals lediglich zweitrangige Funktion (die sich – noch heute archäologisch sichtbar – nur am Rande der alten Marktplätze in deren Säulengängen abspielte) drängte erst auf den Markt, als dieser bereits leergefegt war: die Wirtschaft. Dort steht sie noch heute und bedroht uns mit dem Besen. Das ist und bleibt politisch gewollt, aber so wollen es auch ganz andere: Politik in die Kabinette, Kunst ins Atelier, Wissenschaft in die Akademie, und die Kranken hübsch ins Krankenhaus; wie sieht das sonst aus?
Der Umstand, dass wir heute nurmehr an Wirtschaft denken, wenn wir Markt sagen, spiegelt eine Gesellschaft, die sich über das Ökonomische hinaus nicht viel zutraut, sich gerne im Verborgenen abspielt und deshalb gerne misstraut. Dieses Misstrauen spiegelt sie dann als Konkurrenz in den Anderen, in den Fremden. Eine durch und durch bürgerliche Gesellschaft eben.
Wenn man der Welt, die sich gerade als globaler Markt über unsere Tellerränder beugt, mit Haltung begegnen will, dann kann man diese bürgerlichen Untugenden getrost ablegen. Dafür muss man sich aber was trauen: Drängen wir zunächst die Wirtschaft wieder an den Rand des Marktes. Fangen wir einfach mit diesem Satz an: Markt ist nicht gleich Wirtschaft! Markt ist mehr.
* Bewirtschaftet von Kompetenzzentrum für Unternehmensführung der Berner Fachhochschule.
** Kontakt: rothste0@etu.unige.ch, Soziologe.
Foto: zVg.
ensuite, April 2010