Von Jarom Radzik — Ein Essay mit Fortsetzung: Redaktioneller Hinweis: Folgende Personenkategorien sollten den Inhalt dieses Beitrages nicht lesen: Menschen unter 18 Jahren, Menschen mit Beziehungsschaden, Menschen mit Beziehungswunsch und insbesondere Menschen, die in intakten Beziehungen stehen und dort bleiben möchten.
Um es gleich vorweg zu nehmen, es gibt viele Geschichten, in denen ein Kunstwerk lebendig wird. Vom hart an der Pädophilie vorbeiramschenden Pinocchio bis zum Typen, der seine Traumfrau aus Stein meisselt und damit zum geistigen Vater der Sexpuppe wird. Da gibt es nichts, was der Verstand nicht hergeben würde. «Mit Kunst lieben lernen» befasst sich aber nicht einfach nur mit dem Kunstwerk als Lustobjekt, sondern mit der Beziehung zwischen Künstler und Kunstwerk insgesamt.
Es gibt jene Momente, in denen erahnt man sogar als Kunsteunuch, dass es zwischen Künstler und Kunstwerken ernster funkt. Denken Sie nur einmal daran, wieviel Zeit so ein Künstler mit der Bearbeitung und Formung eines Kunstwerks verbringt. Was könnte er in dieser Zeit wohl sonst noch alles mit seinem Leben anfangen? Steile gesellschaftlich relevante Karriere, sozialen Heilsdienst oder gar die Weltherrschaft. Mit der Kunst verdampfen die zahllosen Opportunitäten sprichwörtlich im Feuer der Leidenschaft, während da gehämmert, gekratzt, gepinselt oder geklickt wird. Natürlich sind wir ihnen auch dankbar, dass sie das tun, die Kunstschaffenden, denn sonst gäbe es keine Kunst.
Kunst bis zum Orgasmus Kein Wunder, dass man an Sex denken muss, wenn man sieht, mit wie viel Leidenschaft sich Künstler an die Arbeit machen. Noch mancher Liebende könnte sich eine Scheibe von jenem Fingerspitzengefühl abschneiden, das dabei angewendet wird, um sich die werdende Kunst gefügig zu machen. Und wie es sich für Liebesbeziehungen gehört, wird das unbeständige, diffuse Empfinden mit grosser Ernsthaftigkeit zu einer konkreten und intensiven Auseinandersetzung zugespitzt. In dieser Phase scheint der Künstler nichts anderes mehr wahrzunehmen, als nur sein Werk. Höchste Konzentration, Feuer, schwerer Atem – vielleicht doch gut, dass ich diesen Teil nur auf der Kunstseite weiter ausführen werde. Der Prozess treibt Künstler und Kunstwerk immer stärker und anhaltender auf einen Höhepunkt zu, der, sollte er denn gelingen, in ein klares Form- und Erlebnisbild mündet. Um meine pseudo-erotischen Ausführungen fürs Erste abzuschliessen: Am Ende steht, wie in der zwischenmenschlichen Sexualität, die Verschmelzung. Künstler und Werk werden eins. Das ist der Moment, in dem der Künstler merkt, dass er seinem Werk nichts mehr zu bieten hat. Und wie mit einem Orgasmus verpufft die empfundene Leidenschaft und weicht einer wohligen Entspannung.
Verändernde Veränderung Wer glaubt, Kunst machen habe etwas mit postkolonialer Materialunterdrückung zu tun, irrt. Denn das vermeintlich Unterdrückte prägt seinen Bedrücker genauso. Will der Künstler verändern, muss er sich verändern, muss aktiv werden und immer wieder neue Wege beschreiten, sonst landet er unvermeidlich in der Serienproduktion. Und das ist nun wahrlich keine Kunst, sondern präkapitalistische Manufaktur.
Geradezu erschreckend ähnlich klingt es, wenn der Schweizer Paartherapeut Jürg Willi von einer Liebesbeziehung spricht: «In einer Liebesbeziehung begegnen sich zwei suchende, unfertige und ungesättigte Menschen, die hoffen, in und durch die Beziehung ihr persönliches Potential verwirklichen zu können und zu neuen Entwicklungen aufzubrechen» (Willi, 2004 (2. Aufl.), S. 27).
Jene Verbindung, die ein Kunstschaffender während seiner Arbeit mit dem dabei entstehenden Kunstwerk eingeht, könnte also mit einer Liebesbeziehung verglichen werden. Umgemünzt auf die Kunst, lautet das Zitat von Jürg Willi etwa wie folgt: «Die unbearbeitete Materie trifft auf den unbearbeiteten Künstler. Beide haben die Sehnsucht, die Verwirklichung des eigenen Potentials zu finden».
Warum wir Frösche küssen Die Geschichte mit dem Frosch, der sich durch einen Kuss in einen Traumprinzen verwandelt hat, ist aus psychologischer Sicht haltlos. Denn es ist unsinnig, dass man den vorgefertigten Prinzen sucht. Denn der Frosch ist erst einmal ein Frosch und keine Wahrnehmungsstörung. Frosch findet also Frosch, nicht Prinzessin Prinz, muss es heissen. Menschen finden nicht ernsthaft zu einer längeren Beziehung zusammen, weil da irgendwer bereits den Vorstellungen von irgendwem entspricht. Bisher haben sich Traumprinzessinnen und ‑prinzen als ziemlich flüchtige Wesen erwiesen, die sich spätestens nach der Ausnüchterungsphase als selbstgemachte Vorstellung erwiesen haben.
Endstation Hoffnung Wahre Anziehung beruht vielmehr darauf, dass jene, die sich das antun wollen, vom betreffenden Gegenüber in ihren Wünschen und Sehnsüchten beantwortet fühlen. Und genau das führt fataler Weise dazu, dass sich Menschen unsinnigerweise gegenseitig Erfüllung und Verwirklichung tiefster Sehnsüchte in Aussicht stellen. Das erklärt, warum in den sonst so rational hedonistischen, so gegenwartsgetriebenen Skeptikern die Hoffnung keimt, im Gegenüber einmal das zu finden, was für die Entfaltung, Entwicklung und Verwirklichung ihres intimsten persönlichen Bereiches notwendig sein wird. Kurz gesagt: In Liebesbeziehungen geht es in erster Linie um eine gesunde Portion Egoismus Richtung Selbstverwirklichung gepaart mit viel Einschränkung an Handlungsfreiheit. Wie bei so vielen Verträgen sieht eine Liebesbeziehung in ihrem Kleingedruckten nämlich vor, dass die Entwicklung am und mit dem Gegenüber verbunden wird. Hart an der Grenze der Unzurechnungsfähigkeit entsteht so eine Schicksalsgemeinschaft, die ihre Entwicklung von einander abhängig macht. Damit brockt sich die oder der Liebende sozusagen ein externes Kontroll- und Antriebsystem ein. Das Gegenüber wird nämlich neben dem weiterhin bestehenden Wunsch zur Selbstverwirklichung immer auch daran interessiert sein, den anderen zur Entwicklung anzuregen. Und warum? Weil er den anderen nur schon dadurch zur Entwicklung anregt, weil er ja selbst am Gehen ist und den anderen damit aus einer neuen Perspektive betrachtet. Liebesbeziehungen sind also per se nichts für ruhebedürftige Couch Potatoes. Und jetzt verstehen Sie auch, warum einer Liebesbeziehung ein gewisser Nötigungscharakter zugrunde liegt.
Wo der Meister zum Schüler wird So wie den Liebenden geht es auch der Künstlerin und ihrem zu werdenden Kunstwerk. Sie würde wohl kaum anfassen, was in ihren Augen bereits vollendet ist. Auch sie wählt den Frosch und fühlt sich offenbar gedrängt, sich mit diesem Unfertigen auseinander zu setzen. Und interessanterweise begegnet uns hier wieder diese, in gewissem Sinne, unvernünftige Hoffnung. Denn wüsste die Künstlerin schon im vornherein vom Gelingen ihres Unterfangens, hätten wir es mit der bereits genannten Serienmanufaktur oder aber mit ausgewachsenem Grössenwahnsinn zu tun. Vielmehr muss die Kunstschaffende aber akzeptieren, dass die von ihr gewählten Materialien nur die Wahrscheinlichkeit vergrössern können, dass daraus auch ein ihren Vorstellungen entsprechendes Kunstwerk entsteht. Ob Stein, Holz, Plastik, Metall, Schall oder Lichtwellen – egal, was die Kunstschaffende wählt, es besitzt bestimmte Eigenschaften, wenn nicht ein eigenes Wesen. Natürlich prägt die Arbeit der Künstlerin das von ihr bestimmte Material auf die von ihr beabsichtige Weise. Auch sie fungiert also als Entwicklungshelferin. Aber stellen Sie sich nur einmal vor, da wäre nichts, was die Künstlerin dazu nutzen könnte; sie würde auf ihren Ideen sitzen bleiben und ganz schön in die Röhre schauen. Insofern besteht eben doch eine gewisse Abhängigkeit, der sich so unabhängig fühlenden Künstlerin. Und auch das werdende Kunstwerk regt die Künstlerin zur eigenen Entwicklung an – spätestens dann, wenn sie einschlägige Erfahrungen damit macht, dass man auch scheitern kann. Ja, auch Kunstschaffende müssen hoffen im und mit dem gewählten Material das gefunden zu haben, was der Entfaltung, Entwicklung und Verwirklichung ihres intimsten persönlichen Ausdrucks entspricht. Damit leben sie ein egoistisches Streben nach Selbstverwirklichung in der Beeinflussung eines Materials aus. Das werdende Kunstwerk dient der Selbstverwirklichung am und mit dem Gegenüber. Künstler und Material gehen in diesem Prozess miteinander eine Verbindung ein, die sich in einer gegenseitigen Entwicklung niederschlägt. Während das Material zum Kunstwerk wird, wird der Künstler zum Schüler seines Materials. Eine eigenständige Entwicklung, in der doch beide voneinander abhängig sind.
Es ist eine Art Koevolution. Jeder begleitet den anderen in Aufgaben, die bisher angestanden sind. Im Prozess erkennt der Künstler, wo seine Stärken und Schwächen liegen, weil sie erst in der Auseinandersetzung mit dem werdenden Kunstwerk zutage treten. Und darin liegt auch die Bewegung des Kunstschaffenden: Er erfährt genauso eine Veränderung wie das, was er durch seine Handlung zur Veränderung bringt. Der Mensch nimmt vor allem wahr, was in ihm eine Emotion auslöst. Emotionen sind aber immer an Veränderungen gebunden.
Sowohl der Kunstschaffende als auch sein Werk sind unvollendet. Der Künstler hätte kein Bedürfnis Kunst zu schaffen, wenn er keinen Mangel, keine Unausgefülltheit empfinden würde. Das Kunstwerk würde nicht entstehen, wenn es der Kunstschaffende als vollendet, als perfekt wahrnehmen und verstehen würde. Und doch scheint es, dass der Kunstschaffende von dieser ungeformten Materie angezogen wird und vielleicht wird es auch die Materie vom Kunstschaffenden. In dieser Wechselbeziehung geht es nicht darum, den anderen zu seinem perfekten Ebenbild zu formen, sondern ihn in seiner Entwicklung zu begleiten. Solange der Künstler darauf beharrt, sich selbst in seinen Gedanken und Vorstellungen zu reproduzieren, kann er der Materie die er bearbeiten will, keine Gestalt geben, die ihn zufrieden stellen würde. Er kann ihr nichts abgewinnen, was ihn vorantreiben würde. Darum kann eine Kopie von einem Kunstwerk noch so gut sein, das Leben des Originals kann sie nicht imitieren. Denn eine Kopie ist immer nur eine Bezwingung, aber niemals eine Auseinandersetzung mit dem Gegenüber. Und solche Beziehungen sind bezeichnenderweise immer zum Scheitern verurteilt.
Vom Ende zum Anfang Wer den Satz «Und sie lebten für immer glücklich und zufrieden miteinander» erfunden hat, gehört meiner Meinung nach vors Standesgericht. Immerhin pflanzt dieser Satz seit Generationen Kindern eine falsche Vorstellung über die Liebe und das Leben ins Gehirn. Doch davon ein andermal..
Foto: Lukas Vogelsang
ensuite, November 2010