Von Andreas Meier — Das erste und letzte was man über dieses Spiel sagen muss ist: «NaissanceE» ist eine atemberaubende künstlerische Leistung. Das Spiel wirft den Spieler ohne Erklärung in eine ebenso bedrohliche wie schöne Welt, die ganz von Abstraktion, geometrischen Formen und scharfen Kontrasten zwischen Licht/Dunkel und Schwarz/Weiss geprägt ist. Die Abstraktion ist nicht bis zum Extrem getrieben; man kann architektonische Strukturen erkennen; Gänge, Strassen, Häuser, Städte. Doch sind sie so verfremdet, dass jeder Deutungsversuch scheitern muss. Man erfährt nicht, wer diese bizarren Strukturen bewohnt und gebaut haben soll – oder weshalb – und man ist allein an diesem Ort.
Diese Welt vereint viele künstlerische Einflüsse. Sie erinnert an dystopische Science Fiction-Filme wie Fritz Langs «Metropolis» oder Ridely Scotts «Blade Runner» mit ihren uferlosen, erdrückenden Megastädten, oder die klaustrophobischen, unterkühlten Gänge des Raumschiffs Nostromo aus Scotts «Alien». Die Architektur übernimmt die harte Schwere des Brutalismus, die Erhabenheit von Tempelbauten, den Grössenwahn von faschistischen und futuristischen Monumentalbauten. Alle mit dem selben Effekt: Sie schaffen einen starken Kontrast zwischen sich und dem menschlichen Betrachter. Die Strukturen von «NaissanceE» sind sowohl feindselig wie gleichgültig gegenüber dem Spieler. Das macht klar, dass es kein geeigneter Ort für ein Lebewesen ist. Aber man möchte trotzdem nirgends sonst sein.
«NaissanceE» gehört zu einem relativ neuen Genre von Spielen, in denen die zentrale Interaktion die Bewegung durch den Raum des Spieles ist. Dieses Genre betont und belohnt Exploration, und tut dies primär, indem es Räume bietet, die sowohl Neugierde als auch einen Sinn für Ästhetik anregen und befriedigen wollen. Erkundung ist ein uralter Topos von Videospielen, doch der zentrale Unterschied zu den meisten Spielen ist, dass in diesem Genre die Navigation des Raumes fast rein intrinsisch statt extrinsisch motiviert wird; der Akt der Erkundung selbst ist die hauptsächliche Belohnung, und nicht beispielsweise versteckte Schätze, die den Spieler durch ein Labyrinth locken.
Spiele wie «NaissanceE» werden häufig abschätzig als «Walking Simulators» oder virtuelle Museumstouren abgestempelt; der Vorwurf ist, dass das Betrachten über das Interagieren gestellt wird, nach dem Motto: «Bitte nicht berühren». Das ist meistens eine verfehlte Kritik. Der Raum wird schliesslich nicht nur passiv erlebt oder betrachtet, sondern aktiv navigiert und erforscht. Die Navigation ist einem Rhythmus unterworfen, der aus einem Wechselspiel zwischen dem Drang weiterzukommen und dem Antreffen und Überwinden von Hindernissen entsteht.
Die Hindernisse sind eher Mittel zum Zweck als Kern des Spieles, sind aber auch nicht nur beliebige Stolpersteine mit dem einzigen Ziel, die Spielzeit zu strecken. Die Art der Hindernisse ist essentiell für die Atmosphäre, die die Gestaltung des Raums vermittelt. In «NaissanceE» ist die Bewegung selbst ein Hindernis; zum einen muss der richtige Weg in den Labyrinth-ähnlichen Strukturen gefunden werden. Zum anderen müssen die Gefahren auf diesem Weg umgangen werden, indem der Spieler springt und sprintet. Die physische Anstrengung wird gut vermittelt durch eine simple Atem-Simulation: beim Rennen muss in rhythmischen Abständen eine Taste gedrückt werden, um regelmässig zu atmen. Eine andere Art von Hindernis sind die diversen Rätsel, die es zu lösen gilt. Diese Hindernisse sind nicht der Fokus des Spiels, doch sie verstärken gekonnt die Atmosphäre des Bedrohlichen und des Mysteriösen, die von der Architektur der Welt ausgeht; das Design des Raums und die Interaktion des Spielers – so simpel sie auch ist – greifen ineinander und machen das Spiel zu mehr als einem virtuellen Museum.
Was jedoch kritisiert werden kann ist, dass dieser Rhythmus hin und wieder ins Stolpern kommt. Das liegt zum einen an den zum Teil sehr frustrierenden Geschicklichkeitsaufgaben, die entgegen dem eigentlichen Fokus des Spiels zu viel Aufmerksamkeit auf die Hindernisse legen. Zum anderen fügen sich diese Geschicklichkeitstests und die viel ruhigeren Rätsel-Abschnitte nicht immer zu einem organischen Ganzen zusammen. Ein guter Vergleich ist «Kairo» von Richard Perrin, das mit einem ähnlichen Stil arbeitet. «Kairo» ist gemächlicher als «NaissanceE», da sein Rhythmus allein durch Rätsel bestimmt wird, und der Unterschied in Spieldesign schlägt sich deutlich im ästhetischen Design nieder: Die Welt von «Kairo» ist ähnlich bedrohlich und fremd wie die von «NaissanceE», doch der Fokus liegt nicht auf Gefahr, sondern auf Mysterium, passend zur Interaktion des Spielers. Es sind metaphorische, surreale Landschaften, die in der Leere schweben, während die Strukturen von «NaissanceE» ein starkes physisches Gewicht haben. Spiel- und Weltdesign greifen besser ineinander in «Kairo» und schaffen einen regelmässigeren Rhythmus.
Das Spielen von «NaissanceE» kann häufig eine wankende Gratwanderung zwischen Begeisterung und Frustration sein. Doch Geduld lohnt sich, denn in einem Punkt haben die Kritiker recht: Die kalten Landschaften von «NaissanceE» sind häufig so atemberaubend, dass man dazu verleitet sein kann, die Hände von Tastatur und Maus zu nehmen und einfach nur zu staunen.
«NaissanceE» ist als Download (Windows) auf store.steampowered.com für 15 Euro erhältlich, «Kairo» als Download (Windows, Mac, Linux) für 5$ auf kairo.lockeddoorpuzzle.com.
Foto: zVg.
ensuite, Mai 2014