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Poetischer Sound im Industrieareal

Von Kar­la Mäder — Jed­er, der heute zwis­chen 30 und 50 Jahre alt ist und der sich für mod­erne Musik inter-essiert, ken­nt wohl Tom Waits. Die Songs des 59-jähri­gen Amerikan­ers sind kleine, poet­is­che Meis­ter­w­erke, ihr krächzen­der, rumpel­nder Sound ein Marken­ze­ichen, das man wieder­erken­nt – und mit jed­er neuen CD immer wieder liebt.

Mit «The Black Rid­er» hat Tom Waits 1990 auch das The­ater für sich erobert. Eine Rei­he von The­ater­w­erken brachte er zusam­men mit seinem Lands­mann, dem kon­ge­nialen Regis­seur Robert Wil­son, her­aus. Mit ihrem let­zten Werk, dem 2000 in Kopen­hagen uraufge­führten «Woyzeck», knüpfen die bei­den nun an ihren Anfangser­folg an.

Erstauf­führung Der als Per­fek­tion­ist gel­tende Musik­er brauchte allerd­ings eine Weile, bis er «Woyzeck» für den all­ge­meinen Markt freigab. In der ver­gan­genen Spielzeit kam «Woyzeck» in Deutsch­land her­aus, und die Schweiz­erische Erstauf­führung find­et nun als Pro­duk­tion des Stadtthe­aters Bern in den Vid­marhallen statt. Übri­gens erweist sich Tom Waits in der Prax­is dann doch als nicht so per­fek­tion­is­tisch: In einem Fernse­hin­ter­view vor der Urauf­führung in Kopen­hagen meinte er, Tech­nik sei nicht nötig, um seine Songs sin­gen zu kön­nen, seine Stimme sei ohne­hin nicht zu imi­tieren. Für ihn käme es allein auf die emo­tionale Tech­nik der Schaus­piel­er an.

Für die Vid­marhallen ist die «Woyzeck»-Inszenierung allerd­ings auch in ton­tech­nis­ch­er Hin­sicht ein Meilen­stein, bekommt sie doch eigens eine neue Tonan­lage, welche die Schaus­piel­er und die 6‑köpfige Band – unter anderen mit Mich Ger­ber am Bass und Kathrin Bögli am Cel­lo – ver­stärken wird.

Büch­n­ers Frag­ment Das 1837 vom erst 24-jähri­gen Büch­n­er geschriebene Frag­ment «Woyzeck» erzählt in kurzen Szenen die Geschichte des Sol­dat­en Woyzeck, der mit Marie ein une­he­lich­es Kind hat und von Wah­n­vorstel­lun­gen heimge­sucht wird. Als er erfährt, dass Marie ihn mit einem Tam­bour­ma­jor betrügt, bringt er sie um. Das Stück ist bis heute wirk­mächtig, weil es als Frag­ment – Büch­n­er ver­starb vor der Vol­len­dung – weich­es Mate­r­i­al (wenn auch mit vie­len Eck­en und Kan­ten) in den Hän­den jedes Kün­stlers ist, der sich damit beschäftigt. Zugle­ich ist das Stück von frap­pieren­der Moder­nität.

Zum ersten Mal ste­ht hier ein Vertreter der Unter­schicht im Zen­trum eines Dra­mas, und auch das Ver­hält­nis der bei­den Pro­tag­o­nis­ten Marie und Woyzeck zueinan­der ist mod­ern: Hier die allein­erziehende Mut­ter, dort der schw­er arbei­t­ende Vater, der vor­bei kommt, um sein sauer ver­di­entes Geld abzuliefern. Die anderen Fig­uren sind drastis­che Abziehbilder: der eitle Tam­bour­ma­jor, der vom Ehrgeiz zer­fressene, autis­tis­che Dok­tor, der melan­cholis­che Haupt­mann, von dem man nicht weiss, ob er ein Dummkopf oder ein Philosoph ist, und die neugierige, schwatzhafte Nach­barin.

Blood Mon­ey In den fün­fzehn «Woyzeck»-Songs, die Waits 2002 teil­weise auf ein­er CD mit dem Titel «Blood Mon­ey» veröf­fentlichte, geht es höchst metapho­risch zu: Bere­its der erste Song, eine kraftvolle Chor­num­mer, schlägt den Grund­ton an: «Misery’s the Riv­er of the World / Every­body row!», heisst es da – das Elend ist der Fluss der Welt, und wir alle wer­den an die Rud­er gerufen. Später dann singt Woyzeck sel­ber in ein­er trau­ri­gen Bal­lade davon, wie er bei sein­er Heirat ins Meer fiel und alles gewet­tet hat, um ein besseres Leben zu haben.

Der Haupt­mann find­et in einem Song, das Leben sei ein Holzweg und der Men­sch nichts als die Fiedel, auf der es spielt, aber egal, man würde ja lebend doch nicht rauskom­men, wenn man im Wal­fis­chbauch ver­hungert; der Dok­tor behauptet, dass Gott in Geschäften unter­wegs und ger­ade abwe­send ist, und der Tam­bour­ma­jor erzählt dem Mann, den er ger­ade bet­ro­gen hat, von den Ranken der Klet­terpflanzen, die über alles hin­weg wach­sen, um in die Sonne zu kom­men.

The­ater­musik Darauf ange­sprochen, dass seine «Woyzeck»-Songs an die The­ater­musik von Kurt Weill aus den 30er-Jahren erin­nern, antwortete Tom Waits in einem «Spiegel»-Interview: «Als ich diesen Ver­gle­ich das erste Mal hörte, habe ich Weills Musik gar nicht gekan­nt. Aber ich habe sie ange­hört, um her­auszufind­en, was die Leute meinen. Was ich an ihm mag, ist dieses: Er nimmt eine schöne Melodie und erzählt dir furcht­bare Dinge. Ich hoffe, dass mir das auch gelingt.»

Der Titel der CD, «Blood Mon­ey», ist höchst dop­peldeutig: Mit «Blut­geld» wird sowohl jenes Geld beze­ich­net, das in Mafi­akreisen den Nachkom­men eines Opfers bezahlt wird, als auch Geld, das man mit dem Verkauf seines Blutes ver­di­ent. Und Woyzeck, der arme, geschun­dene Sol­dat, der sich als Ver­such­skan­inchen bei frag­würdi­gen medi­zinis­chen Exper­i­menten einen Extra-Pfen­nig für den Unter­halt seines Sohnes dazu­ver­di­ent, bringt später dessen Mut­ter um: Er ist Opfer und Täter zugle­ich.

Foto: zVg.
ensuite, Sep­tem­ber 2009

Artikel online veröffentlicht: 9. September 2018