Von Nina Knecht und Friederike Krahl — Friederike Krahl ist Puppenspielerin, Schauspielerin, Regisseurin und Autorin. Die Stücke, welche sie in verschiedenen Formationen (u.a. Theater Handgemenge, KASOKA) mit anderen Künstlern zusammen entwickelt, spielt sie auch an zahlreichen internationalen Festivals. Sie lebt in Berlin und arbeitet u.a. auch als Gastprofessorin für den Nachdiplomkurs Figurenspiel (CAS) an der Zürcher Hochschule der Künste in Zürich. Auf Grund ihrer zahlreichen Erfahrungen hat sie einen Text darüber verfasst, was sie an Puppenspiel fasziniert und wie es funktioniert. Sie beschreibt aber auch, wie es sich an Studierende vermitteln lässt und was bei einer Ausbildung zur Puppenspielerin wichtig ist.
Warum bin ich Puppenspielerin? Ich kann mir vorstellen, das was ist, wo nichts ist. Nichts, ausser einem Stöckchen, einem Alltagsgegenstand, einer Puppe aus Holz, Latex oder Stoff. Für mich ist die Materie lebendig, beseelt. Je grösser der Spielraum meiner eigenen Phantasie, umso reizvoller. Wolken am Himmel zu Figuren zu machen, ist auch eine Vorform von Puppenspiel. Oder Gesichter in Felsen zu sehen. Fels und Wolke sind zu gross, um mit ihnen zu spielen. Das sind die grossen Naturgeister, aus denen man Mythen, Märchen und Sagen gemacht hat. Puppenspieler suchen sich kleinere Geister, die sie mit ihren Händen bewegen können. Aber der Vorgang ist derselbe: Ich sehe was, was du nicht siehst, Zuschauer. Damit du aber sehen kannst, was ich sehe, muss ich einen langen Weg gehen. Nachher spielt sich das «Eigentliche» im Bruchteil von Sekunden ab.
Zuerst nehme ich deine Position ein: Ich werde zum Beobachter. Ich beobachte mein Material. Halt – welches Material? Vielleicht muss ich das Material erst einmal suchen, entdecken, sammeln, kombinieren, zusammenbauen. Erfindungen machen, formen, schnitzen, bauen, säubern, schleifen, nähen, malen, es mit meinen Händen erschaffen. Oder jemand anderes tut all das und gibt mir das Ergebnis seiner Arbeit in die Hand. Bis zu diesem Moment ist die Arbeit eine bildnerische. Eine schöpferische Arbeit, mit Imagination und Vision verbunden, denn der Bildner sieht in seinem Material auch etwas Lebendiges. Aber mit Theater hat das noch nichts zu tun. Theater wird es, wenn ich die Form, die das Material vor mir angenommen hat, als «Seelengefäss» nehme. Ich tue eine Seele in dieses Gefäss. Ich erschaffe mir ein Gegenüber. Ich fange an, mit ihm zu kommunizieren. Ich will wissen, was es ist, wie es ist. Ich probiere es aus. Ich teste es, ich spiele damit herum, ich bin neugierig auf seine Möglichkeiten. Dieser Vorgang ist geradezu intim, auch wenn er in der Öffentlichkeit stattfindet. Manche Spieler brauchen den Zuschauer schon in diesem Moment, andere wollen ihr Gegenüber erstmal allein kennenlernen. Egal, was es ist, das Gegenüber wird lebendiger, umso mehr man sich mit ihm beschäftigt. Es bekommt eine Geschichte, eine Biografie. Einen Namen. Einen Platz, wo es hingehört. Dies alles bleibt rein fiktiv, aber es wird Realität.
Der Puppenspieler überträgt seine Fiktion auf den Zuschauer – ich sehe was, was du nicht siehst. Wer auch nur ein einziges Mal erlebt hat, wie jemand fasziniert auf ein alltägliches Ding oder eine Puppe schaut, weil sie «lebendig wird», weiss, wovon die Rede ist. Ich habe diese Faszination erfahren, als Zuschauerin und als Spielerin. Deshalb wollte ich eine Puppenspielerin werden. Puppenspieler zu werden ist ein langer Weg. Das erste, was man lernen muss, ist das Lernen. Nichts ist flüchtiger als der Augenblick, und Theater lebt von diesen Augenblicken. Wie lernt man, das Flüchtige festzuhalten, den Augenblick immer wieder herbeizurufen, ihn so zu erschaffen, wie es die eigene Vorstellung will? Wie schafft man es, nicht daran zu verzweifeln, das er mal ganz nah ist und dann wieder unerreichbar? Lernen ist Wiederholen, etwas immer und immer wieder tun, und dabei beobachten: Was passiert, wenn ich dies und das tue, wenn ich es anders tue, wenn ich es immer und immer tue, wenn ich es nicht tue? Was man dabei gewinnt, ist die Erfahrung, ist noch nicht Wissen. Wissen hat mit Bewusstsein zu tun: Das, was ich erfahren habe, wird mir bewusst. Ich kann es aussprechen, aufschreiben, anderen weitergeben. Ich kann es in meine Arbeit einfliessen lassen und mich in einen neuen Prozess begeben. Wissen allein aber nützt gar nichts, wenn es nicht auf ein Medium übertragen wird. Das Medium des Puppenspielers ist die Puppe. Ein Kind spielt auch mit Puppen. Es lebt in einer von ihm selbst geschaffenen Realität, ohne sie in Frage zu stellen. Der Puppenspieler erschafft diese Realität bewusst. Er spielt auf einer «höheren» Ebene, die aber im Grunde auch nichts anderes meint als den Zugang zu der eigenen Phantasie.
Der Puppenspieler sieht nicht das Objekt, er sieht das Subjekt. Er behandelt es als solches und es wird durch ihn lebendig. Es atmet, es bewegt sich, es hat Sinne, es hat Gefühle, es hat Bewusstsein, einen Verstand. Es hat Charakter. Es reagiert menschlich. Es hat eine Geschichte. Es kommuniziert mit anderen Subjekten. Es wird zum Darsteller auf einer Bühne, es kann eine griechische Tragödie spielen und Kasperltheater oder beides. Es kann sterben und zwar glaubhafter als ein Mensch auf der Bühne. Denn die Puppe verliert ihr Leben wirklich, wenn man den Vorgang umkehrt: vom Subjekt zum Material. Die Seele fährt aus dem Puppenkörper. So geht es uns Menschen, wenn wir sterben. Vielleicht liegt deshalb etwas so Tröstliches darin, «toter» Materie Leben einzuhauchen: Wir fühlen uns selbst dadurch lebendiger. Wir glauben uns selbst besser, dass wir leben. Wir können unsere Wünsche, Ängste, Vorstellungen in diese Puppe projizieren. Sie hilft uns zu erkennen, wer wir sind, was wir sind. Je weniger wir Puppenspieler darüber nachdenken, was wir da tun, umso lebendiger wird unser Spiel. Wenn wir uns selbst dabei vergessen, wird es wahrhaftig. Das heisst nicht, dass wir die Kontrolle aufgeben. Im Gegenteil. Je mehr wir wissen, mit wem wir es zu tun haben, je geübter wir darin sind, der Puppe Leben zu geben, je konzentrierter wir uns in die andere Realität begeben, umso lustvoller und überzeugender ist unser Spiel. Wenn ich jemandem etwas über Puppenspiel beibringen möchte, dann ist es diese Bewusstheit und deren handwerkliche Entsprechung. Beides geht bei einer Ausbildung Hand in Hand. Der Lehrer gibt dem Schüler seine Gedanken, seine Idee, seinen Impuls. Seine Vorstellung von der Welt, bezogen auf sein Fachgebiet. Er zeigt dem Schüler einen anderen Sichtwinkel. Er zeigt ihm, was er nicht kann und zeigt ihm, wie er dahin kommt, es zu können. Das Nicht-Können, das Nicht-Wissen ist schwer auszuhalten, aber es ist nun mal der Rohzustand, in den man sich begeben muss, wenn man etwas lernen will. Ein guter Lehrer macht seinem Schüler Mut. Er gibt ihm Werkzeug in die Hand. Geistiges und materielles Werkzeug. Er spiegelt den Schüler, nicht zerstörerisch und arrogant, aber auch nicht schonend und devot. Der Lehrer braucht eine Vorstellung von dem, was der Schüler am Ende können soll. Und einen Weg dahin. Dieser Weg ist das, was er dem Schüler mitgeben kann. Damit ihn dieser immer und immer wieder gehen kann, allein – und ohne Lehrer.
Bild: Figurentheater Karlsruhe / Foto: (v.o.) Krahl von Beatrix von Hartmann
ensuite, Februar 2010