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Sakraler Raum im 21. Jahrhundert

Von Anna Roos — In Europa sind wir von wun­der­schö­nen ural­ten Kirchen umgeben. Die wes­teu­ropäis­che Gesellschaft ist kaum so religiös wie früher. Wir leben in ein­er ziem­lich säku­laren Gesellschaft wo noch viele Rit­uale stat­tfind­en, die noch in Chris­ten­tum ver­wurzelt sind. Die grossen Reli­gion­skri­tik­er des 19. Jahrhun­derts, wie Karl Marx und Sig­mund Freud, haben sich den­noch geir­rt. Ihre Prog­nose, dass Reli­gio­nen ver­schwinden wer­den, war falsch. Gott ist nicht tot. Es gibt viele, die noch an Gott glauben.

Trotz­dem ste­hen viele Kirchen leer, hal­bleer oder wer­den umge­baut in Büros oder Woh­nun­gen. Es ist deshalb eher sel­ten, dass ein(e) Architek­tIn heute über­haupt die Gele­gen­heit bekommt, eine neue Kirche zu entwer­fen. Es stellen sich viele Fra­gen: Wie bekommt man als Architek­tIn an ein solch­es Pro­jekt? Welche Rolle soll/muss eine Kirche heute spie­len? Wie entwirft man heute einen sakrale Raum? Was macht einen Raum heilig und «religiös»? Muss man notwendi­ger­weise den Rück­en zum Reich­tum his­torisch­er Tra­di­tion drehen?

Ueli Krauss, von Althaus Architek­ten AG in Bern und Architekt der Kapelle «Cas­ap­pel­la» in Wor­blaufen, hat sich vie­len Aspek­ten und Sym­bol­en christlich­er Architek­tur angenom­men. Wie typ­is­che bernische Land­kirchen ist diese Kirche auch nach Osten ori­en­tiert, fen­ster­los und weiss. Der Kirch­turm ist als neg­a­tive Form konzip­iert, ver­fügt den­noch über ein sicht­bares Sym­bol und den wichti­gen Teil: die grosse Glocke, audi­tives Zeich­nen eine Kirche.

Das ungewöhn­liche Raumpro­gramm ist inter­es­sant: Die Entschei­dung, eine Kirche zusam­men mit drei Woh­nun­gen zu kom­binieren (was sich übri­gens auch im Titel des Bauw­erks «Cas­ap­pel­la» – zusam­menge­set­zt aus «Casa» und «Capela» – wider­spiegelt), bedeutet, das es dort nicht nur bei Fes­ten und an Feierta­gen Leben gibt, son­dern auch während der Woche lebendig ist. Es ergibt sich so eine Nach­barschaft von sakralen und pro­fa­nen Räu­men.

Der Architekt hat die Topogra­phie wahrgenom­men und die Niveauanstei­gung als Instru­ment für seinen Entwurf benutzt. Eine langge­zo­gene Rampe und eine Kaskaden-Treppe verbindet das Strassen­niveau in der obere Teil des Quartiers. Der Weg ist ein Durch­gang für die Bewohn­er runter zum Bahn­hof und inte-gri­ert die Kirche in die Gesellschaft. Die zwei Teile des Pro­gramms hat Krauss in eine Ein­heit, um den erhöht­en Hof, zusam­menge­fasst. Das Ensem­ble erin­nert an ein Kloster. Die architek­tonis­che Geste des starken Balkens an der Strassen­seite des Hofs schafft eine Art Schaufen­ster der Gemeinde oder ein Fries des Lebens vis à vis der Bah­n­gleise.

Der Weg ist eine Route, die sich in Kur­ven durch den Hof schlän­gelt und schliesslich in den Vor­raum und den heilig­ste Ort, die Kapelle, führt. Ueli Krauss hat viele christliche Sym­bole in sein­er Architek­tur ver­wen­det, wie z.B. das Wasser­beck­en neben dem Ein­gang, das an die Taufe erin­nert. Eine neue Inter­pre­ta­tion des Kirchen­fen­sters des por­tugiesis­chen Kün­stlers, Car­los Nogueira, übern­immt den zen­tralen Ort des Ein­gangs über dem Wass­er. Die Trinität ist sym­bol­isiert in der ver­tikalen Teilung des Fen­sters. Die hor­i­zon­tale Teilung zeigt zudem die Erde und den Him­mel. Die Fen­ster lassen Licht und Ritzen­sicht­en durch, während es eine Tren­nung zum öffentlichen Hof schafft.

Krauss hat das Licht in der Kapelle sorgfältig mod­el­liert, um eine «heit­ere» Atmo­sphäre zu schaf­fen, hell und fröh­lich zugle­ich. Das dreifach reflek­tierte obere Licht lässt ein regelmäs­siges «gotis­ches» Licht in den Raum hinein. Die Lichtquelle ist unfass­bar, sodass der Raum sich oben aus­löst und ein mys­tis­ches und geheimnisvolles Gefühl schafft. Nur ein über­raschen­der Flügel von Licht flüchtet sich auf die Wand, «fliegt» auf die Innen­wand der Kapelle und fol­gt der Bewe­gung der Sonne durch den Tag.

Der Kon­tra­punkt des ephemeren Lichts ist der 2,5 Ton­nen schwere, solide Abend­maltisch aus Travertin. Der mas­sive Steinkubus ist zen­tral platziert im absidi­alen Bogen und ist «mehr Zen­trum der Gemein­schaft als Schwelle zum Jen­seits». Auch auf den Grun­driss fix­iert dieses Ele­ment den Plan und gibt ihm einen inner­lichen Fokus. Die Mate­ri­al­isierung des Pro­jek­ts strebt ein höheres Ziel an: Krauss wollte die Echtheit zeigen, ihre ursprüngliche Natur: Holz, Stein, Wass­er, Glas. Der Architekt hat dabei an die Lan­glebigkeit der Architek­tur gedacht. Die Fläche soll ihre Kraft schliesslich noch in einem Jahrhun­dert zeigen. Die Pati­na, die geölte Eiche und der Jura-Kiess-Zement kön­nen reifen und sich verän­dern, ohne die Schön­heit zu ver­lieren.

Die Kirche in Wor­blaufen kann nicht beschrieben wer­den, ohne Àlvaro Siza zu erwäh­nen. Siza, por­tugiesis­ch­er Architekt, ist weltweit bekan­nt für seine inter­na­tionalen Pro­jek­te. Er benutzt per­spek­tivis­che Skizzen, um seine Pro­jek­te zu visu­al­isieren, während er sie entwirft. Die «Casappella»-Kapelle wurde auch mit Hil­fe solch­er per­spek­tivis­chen Skizzen entwick­elt. Man ahnt sofort eine Ver­wandtschaft mit der Architek­tur Sizas. Krauss’ Arbeit­ser­fahrung und seine per­sön­liche Beziehung zu Siza hat einen bedeu­tende Ein­fluss auf seine Kapelle; die For­men, die Manip­u­la­tion der Topogra­phie, die Farbe. Ausser­dem die Tat­sache, wie sein Pro­jekt städte­baulich in die Umge­bung inte­gri­ert ist.

Ob ein Ort oder Raum spir­ituell ist, ist eine per­sön­liche Betra­ch­tung. Für mich ist die Stim­mung in der Kapelle intim und spir­ituell. Mit der Mate­r­i­al-Palette und seinen sym­bol­is­chen For­men ergibt sich ein Ort für Gemein­schaft, für spir­ituelles Leben und gle­ichzeit­ig einen Ort zum Wohnen für Fam­i­lien. Es ist eine neue Verbindung aus sakralem und pro­fanem Ort zugle­ich.

Krauss hat eine mod­erne Architek­tur geschaf­fen, die in die Gemein­schaft einge­bet­tet ist, auf einem Weg, der das Gebäude inte­gri­ert und massstäblich in das Quarti­er ein­passt. Es ist nicht hier­ar­chisch erstellt, nicht abge­tren­nt, son­dern lädt alle ein, den Ort zu erfahren, egal ob christlich oder nicht.

Anna Roos ist Architek­tin bei «kr2» und stammt aus Südafri­ka, ihre Mut­ter­sprache ist Englisch. Ihre Texte wer­den in Zusam­me­nar­beit mit ensuite – kul­tur­magazin über­set­zt.

Foto: Alexan­der Gem­pel­er, Bern
ensuite, April 2010

 

Artikel online veröffentlicht: 18. Oktober 2018