Von Thomas Kohler — Es gibt Wörter, die im übertragenen Sinne zumeist negativ konnotiert sind. Sitzen ist ein solches Wort. Wer in der Schule sitzen bleibt, gilt als Dämlack. Wer Einen sitzen hat, fällt an der Party kaum durch brillanten Witz auf. Und wer etwas aussitzt, wird bestenfalls verspottet. Sitzen gilt in der auf Beschleunigung fixierten westlichen Kultur wenig. Dabei sind Sitze durchaus wichtig, namentlich diejenigen im Auto.
Aber kaum ein Autotester verliert jemals ein Wort über die Sitze eines Testgefährts. Die Gilde der Autojournalisten ergeht sich lieber in ellenlangen Oden an Motor und Getriebe, Bremsen und Bordelektronik, als ein Wort über die Sitzposition zu verlieren. Die Tester schwärmen von der Beschleunigungskraft und berichten tief beeindruckt vom Fahrverhalten in engen – sprich zu schnell gefahrenen – Kurven.
Zugegeben, all diese Technik-Gimmicks sind nicht ganz unerheblich. Ein Autofan wird davon vielleicht den Kaufentscheid für einen neuen Wagen ableiten. Aber auch Autofans sollten sich fragen, wie oft sie im täglichen Verkehr in den Grenzbereich ihres Wagens gelangen. Ein notorischer Raser mag dies anders sehen, als die überwiegende Mehrheit der Fahrer. Umso mehr sollte sich die Autobranche davor hüten, durch krasses Überbewerten technischer Extras das Lebensgefühl eines Rasers zum erstrebenswerten Ziel hoch zu stilisieren. Denn letztlich haftet den meisten technischen Bravourleistungen kaum ein Alltagsnutzen an.
Die Autobranche liebt abgöttisch Begriffe, die der Kundschaft helfen, Rasergelüste und den Hang zum Geschwindigkeitsrausch zu kaschieren. «Aktive Sicherheit» ist ein solcher Begriff. Er soll signalisieren, dass das Übermass an Motorleistung dazu dient, die Sicherheit beim Überholen zu erhöhen. Das ist natürlich verlogen: Wer so überholt, dass ihn nur noch das Plus an Pferdestärken vor einem Crash rettet, fährt schlicht zu schnell und darf nicht mit blöden Werbesprüchen in seinem Tun bestärkt werden.
Das Hochjubeln des für die Rennpiste statt für die Strasse ausgelegten Fahrverhaltens hat mitunter üble Auswirkungen auf den Komfort eines Wagens. Da steht die härtere Federung noch nicht einmal im Vordergrund. So hat zum Beispiel VW für die günstigeren Versionen des Golf bequeme Sitze entwickelt. Wer aber ein Golf-Modell der gehobenen Klasse bestellt, muss auf diese Sitze verzichten. Die «sportlicheren» Autos werden ausschliesslich mit engen Sportsitzen ausgeliefert. Deren Seitenwulste beissen den Fahrer gnadenlos in Rücken und Gesäss. Was einem Profi-Rennfahrer für zwei Stunden zuzumuten ist, wird bei einer längeren Reise auf der Strasse jedoch leicht zum Ärgernis und kann der Gesundheit schaden. Wer liebt es schon, wenn die Beine bei längeren Fahrten gefühllos werden oder wenn am Ziel der Rücken schmerzt?
Hinzu kommt: Rennfahrer müssen nie rückwärts fahren. Rennautos haben meist keinen Rückwärtsgang. Oder wenn doch, dann ist er blockiert. Im Alltag leistet der Rückwärtsgang aber unverzichtbare Dienste – jedenfalls theoretisch. In der Praxis freilich fällt dem Fahrer eines modernen Autos das Rückwärtsfahren wegen der unbequem engen Sitze schwer. Und wenn er es dennoch schafft, sich so zu verrenken, dass er halbwegs nach hinten blicken kann, lauern die Kopfstützen der Rückbank im Heckfenster wie der Goalie im Fussballtor und decken die Sicht formatfüllend ab.
So schwindet beim Einparken jede Hoffnung auf Zielgenauigkeit. Die Autohersteller sorgen natürlich für Abhilfe. Nicht durch bequemere Sitze, sondern durch elektronischen Krimskrams wie Kameras, piepsende Einparkhilfen oder gar Parkroboter, die den Wagen wie von Geisterhand gesteuert einparken. Billig ist all dies nicht. Solche Geräte schlagen leicht mit mehreren Tausend Franken Aufpreis zu Buche.
Und was nützen Direkteinspritzung, Turbolader oder Vierventil-Technik, wenn das Reisen im Auto zur Qual wird? Dennoch gelten armselige Lendenstützen seit Jahrzehnten als Non-plus-ultra an Komfortausrüstung bei Autositzen. Am Genfer Autosalon im vergangenen März präsentierten die Hersteller stolz ein gesteigertes Angebot an Unterhaltungselektronik als Toptrend für das Auto der Zukunft. Dass die elektronischen Spielereien beim Fahren nicht zu gebrauchen sind und dass viele Menschen seekrank werden, wenn sie im Auto lesen oder fernsehen, dass das Gewummere von 1000-Watt-Stereoanlagen innerorts zum Ärgernis wird – all das spielt für die Autoentwickler in den Chefetagen offenbar keine Rolle. Und dass viele Autos ihre Kernaufgabe, den angenehmen Transport von A nach B, immer mangelhafter erfüllen, fällt dort auch nicht ins Gewicht. Dabei kann man dem deutschen Kabarettisten Erwin Pelzig durchaus beipflichten, wenn er proklamiert: «Ein Navi ist die Vorstufe zum betreuten Wohnen.»
Wer jemals in einem Mercedes 220 SE Coupé aus den 60er Jahren Platz nehmen durfte, ahnt welche Wonne das Reisen mit dem Auto sein kann. Fahrer, die ihre Erfüllung darin finden, ihren GT von einer Ampel zur nächsten zu dreschen, werden das 120 PS starke Coupé als lahme Ente abqualifizieren. Solche Fahrer mäkeln auf den chronisch verstopften Verkehrsadern denn auch, sie stünden im Stau. Im alten Mercedes würden sie im Stau sitzen.
Ähnlich bequeme Sitze hatten früher auch die Autos von Citroën. Das bemerkte auch der inzwischen verstorbene Basler Trickfilmer Danny Hummel. Er hatte sich Mitte der 70er Jahre bei der Genfer Rolls-Royce-Vertretung für einen Occasions-Rolls interessiert. Rolls Royce bat ihn jedoch in einem ausgesucht höflichen Brief, er möge die nicht unerheblichen Ersatzteil- und Servicekosten des Gebrauchtwagens bedenken. Man rate ihm zu einem Citroën CX. Der sei ebenso bequem wie der Rolls, komme im Unterhalt aber weitaus günstiger zu stehen. Alles in allem eine schon fast charmante Art zu sagen: «Junge, du bist zu arm für den Rolls.» Der Trickfilmer erstand die schnittige Zitrone – und war glücklich damit
Auf Komfort zu setzen, mag in unserer auf Aktivität so erpichten Zeit wenig Prestige einbringen. Sogar rollende Schlösser wie die Limousinen von Bentley, Rolls Royce oder Maybach bergen inzwischen Monstermotoren mit bis zu 610 PS unter ihren Hauben. Immerhin kümmern sich die drei Traditionsmarken auch um den Komfort. Lederinterieurs, geschmückt mit schön gemasertem Wurzelholz, sind Standard.
Aber selbst bei Bentley und Rolls Royce lassen sich die Sitze verbessern. In den frühen 90er Jahren entwickelten die damals noch unter einem Dach vereinten Marken beheizbare Vordersitze – und starteten alsbald eiligst eine Rückrufaktion, weil einige der Sitze Feuer gefangen hatten. Aber die Idee war gut und wies Nachfolgern den Weg. Saab baute in seine kurzlebige Limousine 95 Frontsitze ein, die die Insassen durch kleine Löcher im Lederbezug kühlten. Die Idee, die Sitze ans Kühlsystem anzudocken, war freilich nicht neu. Die Chauffeure grosser Überlandcamions halten sich längst mit dieser Technik frisch.
Die zu Mercedes gehörende Edelschmiede Maybach ergänzte in ihrem Modell 62 (mit langem Radstand) den Sitzkomfort mit Liegekomfort. Die beiden Sitze im Fond lassen sich zu Liegebetten ausfahren. Aber der Sitzkomfort liesse sich auch in kleineren Autos steigern. Das zeigen wiederum Autos von Bentley und Rolls Royce. Schon unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg statteten die Ingenieure in Crewe im Südwesten Englands ihre damals noch sehr viel schmaleren und im Innenraum engeren Autos mit Rückbänken aus, die stark an Sofas erinnern: Auf den Aussenseiten konnten sich die Passagiere auf bequeme Armlehnen abstützen. Im neusten Phantom doppelte Rolls Royce nach: Zwischen den Fondsitzen des Sondermodells «Year of the Dragon» türmt sich ein lederbezogenes Kommödchen auf, dessen gepolsterte Oberseite den Passagieren als Armlehne und Seitenhalt-Spender dient. Selbstverständlich sind die Sitze dennoch breit wie englische Club-Fauteuils. Nichts zwickt. Auch dann nicht, wenn die Insassen gesetzteren Alters sind und ihre Schneider sich eher an Konfektionsgrösse 62 als 52 orientieren.
Dass ein Fiat 500 nicht Raum für breite Sitze und enorme Beinfreiheit bietet, werden ihm seine Käuferinnen und Käufer nachsehen. Aber auch in Kleinstwagen können bequeme Sitze montiert werden. Als Beweis dafür können der alte Fiat Panda und der Citroën 2CV gelten. Beide Autos boten auf ihren ultradünnen, mit Seilen gestrafften Sitzen überraschend viel Komfort.
Oder erhöhen unbequeme Sitze am Ende gar die Sicherheit im Strassenverkehr? Helfen sie, den Fahrer auf längeren Reisen wach zu halten? Sicher nicht: Blutleere Gliedmassen und nerviges Kneifen im Rücken lenken ab und wirken ermüdend. Da gilt eher der böse Spruch: «Ich möchte schlafend sterben wie mein Grossvater. Nicht schreiend wie sein Beifahrer.»
Foto: zVg.
ensuite, Mai 2012