Von Lukas Vogelsang — Der Titel ist eigenartig: «Eine ruhige Jacke». Auch der Hauptprotagonist Roman ist anders. Aber Roman will als «totaler Mensch» wahrgenommen werden, auch wenn er seit 26 Jahren nicht spricht. Im Film überrascht er uns: Zum einen ist da Roman mit seinen Stereotypen, der betreut werden muss – und dann erleben wir einen Roman, der sich mitteilt, und dies mit erschütterndem Tiefgang.
Spätestens, als Romans Betreuer stirbt, die wohl wichtigste Bezugsperson in seinem Leben, erwacht auch der Zuschauer aus der «Behindertenzone». Im Film ist der Moment, als man ihm die Todesnachricht mitteilt, festgehalten. Durch ein spezielles Schreibgerät kann Roman kommunizieren. Und was teilt uns ein Mensch mit, dessen Hülle wir sehen, dessen Verstand wir aber wohl nie erfassen können?
Autisten stehen heute auf der besseren Seite als noch vor einigen Jahren. Ramòn Giger hat sich in das Thema eingearbeitet und schafft für uns ein neues Bild über «andersartige» Menschen. Es gelingt ihm grossartig, in den sechs Monaten der Dreharbeiten die Begegnung mit Roman festzuhalten. Die Dokumentation ist absolut sehenswert, und für alle, die mehr über Menschen wissen wollen – vor allem über deren grenzenlose Möglichkeiten des Seins – eine Kinopflicht. In den Presseunterlagen fanden wir die «Gedanken des Regisseurs»:
«Auf der Suche nach meiner eigenen Sozialkompetenz, machte ich meinen Zivildiensteinsatz in einem Pflegeheim für Menschen mit einer Behinderung. So lernte ich Roman und Xaver kennen und kam mit einer Thematik in Berührung, die meine Fragen nach Zwischenmenschlichkeit, Anteilnahme und Verständnis für einen anderen Menschen in ein komplett neues Licht rückten.
Ich stellte mir die Frage, zu welcher Art von Beziehungen ein Mensch fähig ist, dem als einzige Überlebensstrategie die absolute Selbstisolation bleibt, obwohl er das gleiche Bedürfnis nach Zuneigung und Austausch haben müsste und sich vielleicht besonders stark danach sehnt, von seiner Umgebung wahrgenommen und anerkannt zu werden. Und umgekehrt: Welche Art des Verstehens kann ich (als «beziehungsfähiger» Mensch) für Roman entwickeln, welcher, so nehme ich an, auf ganz andere Weise empfindet?
Die Annahme, dass Roman, bedingt durch seinen Autismus, hauptsächlich auditiv-visuell und eben nicht sprachlich-begrifflich denkt, veranlasste mich, die filmische Suche vorwiegend auf seine ganz eigene Art der Wahrnehmung auszurichten. Häufig war ich voreingenommen, beeinflusst von Klischees und wissenschaftlichen Thesen, wie die Welt eines autistischen Menschen funktioniere. Ich musste einen Prozess des radikalen Umdenkens durchlaufen. Es war Roman selbst, der die wichtigste Regieanweisung gab: «Als totaler Mensch» wolle er verstanden werden, nicht bloss als Mensch mit autistischen Störungen.
Meine neuen Einsichten, welche jegliche Psychologisierung ablehnten, erschlossen eine ganz neue Perspektive bezüglich Roman. In gewissen Fachkreisen wird Autismus nicht mehr als eine Behinderung, sondern vielmehr als Andersartigkeit angesehen, und dies, obwohl er durchaus lebensbeeinträchtigende Auswirkungen hat. Grundsätzlich liegt jedoch bei nur sehr wenigen autistischen Menschen eine geistige Behinderung vor. Der Intelligenzquotient ist in den meisten Fällen normal bis überdurchschnittlich. Auch Roman ist weder körperlich noch geistig behindert. Und doch werden seine äussere Erscheinung und sein Verhalten als «behindert» interpretiert. Die eigentliche Diskrepanz zwischen seiner äusseren Erscheinung und seinem eigentlichen Wesen entsteht erst aus der Beziehung zu uns. Das symptomatische Vorurteil, dass es autistischen Menschen verwehrt bleibe, Mitgefühl für Andere zu entwickeln, deutet auf diese Irritation hin. Dass es ihnen schwer fällt, zwischenmenschliche Interaktionen «richtig» zu interpretieren, sei hiermit nicht in Frage gestellt; ebenso, dass sich diese Verunsicherung als ein bedrohliches Gefühl äussert und sich auf ihre Haltung gegenüber Anderen überträgt. Und trotzdem geben diese Eigenheiten keinen Aufschluss darüber, welche Gefühlsregungen sich wirklich im Inneren von autistischen Menschen abspielen.
Ist es denn nicht bei uns allen so, dass wir die wirkliche Begegnung erst zulassen, wenn etwas Unausweichliches passiert? Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass ich mich am Sterbebett meines Vaters darauf besinnen werde, welche Gelegenheiten ich verpasste, ihm wirklich zu begegnen. Und ich werde mich fragen, wieso es mir zuvor nicht gelang, diese intime Verbindung zuzulassen. In dieser Hinsicht sehe ich mich nicht anders als Roman.»
Der Film läuft ab 22. Dezember in den Schweizer Kinos.
Foto: zVg.
ensuite, November 2011