Von Sandro Wiedmer — Wie jede der Ausgaben der letzten Jahre hat auch das diesjährige Neuchâtel International Festival of Fantastic Films (N.I.F.F.F.) seine 12. Auflage mit einem neuen Publikums-Rekord abgeschlossen. Ebenso die Programmierung betreffend haben die Verantwortlichen ein weiteres Mal eine feine Hand bewiesen.
Schon die Auswahl von Eröffnungs- und Schluss-Film haben darauf hingedeutet, dass da Qualität dazwischen liegen würde. Zum Auftakt gab es das neue Werk von Leos Carax zu bestaunen, einem der «enfants terribles» des französischen Films. Nach seinem Beitrag zum Episodenfilm «Tokyo!» (2008), dessen andere Episoden von Michel Gondry und Joon-ho Bong stammten, legt er mit «Holy Motors» eine hoch-artifizielle, surrealistische Studie zu Aufgaben gegenwärtiger und künftiger Schauspielkunst vor, gleichzeitig vielschichtige Analyse, brillante Medien-Satire und opulenter Augenschmaus. Der oberflächliche Luxus der Stretch-Limousine, in welcher sich «Monsieur Oscar» (Denis Lavant) herumchauffieren lässt, kontrastiert mit den verschiedensten Formen von Armut und Mängeln, denen er sich zu stellen hat. Seinen nächsten «Auftrag», der mit Präzision und ohne zu Fragen zu erledigen ist, bekommt er jeweils wie ein Menu serviert, er bereitet sich im geräumigen hinteren Teil der Limousine vor, der einen Schminktisch, ein Lager von Kostümen, Requisiten und Accessoires enthält. Vom Tagesanbruch bis in die Nacht reisen wir mit Monsieur Oscar, der unter anderen auch in die kultige Rolle des «Merde» aus der gleichnamigen Episode von «Tokyo!» schlüpft, der hier unter anderem Blumen fressend über einen Friedhof streifen und Trauernde schockieren muss.
Was Wettbewerbe und Sektionen wie «Ultra Movies» oder «Films of the Third Kind» angeht ist das Festival auf das gegenwärtige Schaffen angewiesen, es sind weitgehend die Retrospektiven, welche den Machenden Freiraum für ihre kreativen Kräfte verleihen, ihre Stilsicherheit unter Beweis zu stellen, dieses Jahr mit denjenigen zu «Point of View», zu subversiven Rock-Musicals, und zu «100 Years of Nikkatsu», einer Hommage an das älteste Filmstudio Japans.
Angesichts der Flut an «Found-Footage»-Filmen und «Fake Documentaries», speziell im Gebiet des fantastischen Films, zeugt es von Fachwissen, der Geschichte dieses Phänomens mit dem «Point of View» betitelten Zyklus eine umfassende Retrospektive zu widmen, schon nur um aufzuzeigen, dass mit «Blair Witch Project» (1999) das Kino durchaus nicht neu erfunden worden ist. Gleich der erste gezeigte Film, noch vor der offiziellen Festival-Eröffnung, der in der Blütezeit der politischen Bewegung nach 1968 entstandene Streifen «Punishment Park» (1971) von Peter Watkins, stellte hier eine absolute Trouvaille dar. (Der Film ist übrigens soeben in der Reihe «Kino Kontrovers» als DVD erschienen). Ein europäisches Fernsehteam dokumentiert darin die Alternative «Punishment Park» zu langjährigen Gefängnisstrafen, welche amerikanische Gerichte den unzähligen, zum grossen Teil willkürlich als «staatsgefährdende Elemente» festgenommenen Menschen vorschlägt: Eine dreitägige Hatz durch die Wüste, mit National Guards und Polizei-Einheiten als Verfolgende. – Eine weitere Klammer schliesst hier der nach dem Abschlussfilm gezeigte «C’est arrivé près de chez vous» («Man Bites Dog», 1992) von Rémy Belvaux, in welchem ein damals noch unbekannter Benoît Poelvoorde einen von einem Filmteam während des Tagwerks begleiteten Serien-Mörder darstellt. – Dazwischen standen noch mit Ruggero Deodatos «Cannibal Holocaust» (1980) ein weiterer «Klassiker» auf dem Programm, mit einigen der im Kielwasser von «Blair Witch» schwimmenden Produktionen wie «Paranormal Activity» (2007) oder «Cloverfield» (2008) Filme, die sich, ebenso wie ein grosser Teil des aktuellen in diesem Rahmen präsentierten Schaffens, den Mangel an Originalität als Vorwurf gefallen lassen müssen. Herausstechend die bereits am N.I.F.F.F. 2008 gezeigte spanische Produktion «[Rec]» (2007) von Jaume Balagueró und Paco Plaza, deren dritter Teil «[Rec]3 Genesis» (2012) von Paco Plaza unter den Aktualitäten programmiert wurde, obschon er genau besehen den Kriterien des Genres nicht mehr entspricht. Dafür ist der Streifen eine ausgewachsene Horror-Komödie, in welcher eine Traumhochzeit von den Untoten aufgemischt wird. Das gibt dann Motive her wie die Braut, die mit der Kettensäge, und den Bräutigam, der in der Ritterrüstung um das Überleben kämpfen.
Auch erwies sich die Zusammenarbeit mit dem Dokumentarfilmfestival Nyon in der «Carte Blanche für Visions du Réel: Reality for Fake» als fruchtbar: Vor allem mit «FilmeFobia» (2008) des Brasilianers Kiko Goifman, und «Resurrect Dead: The Mystery of the Toynbee Tiles» (2011) von Jon Foy wurden hier sehr originelle Werke präsentiert.
Darauf, was mit «When Musical Rocks!» weiter geschieht, dem ersten Teil einer auf drei Festivals geplanten Untersuchung der Wechselwirkungen zwischen Rock-Musik und Genre-Film, dürfen wir gespannt sein. Herausragend war hier «Cannibal! The Musical» (oder: «Alferd Packer: The Musical», 1993) von «South Park»-Schöpfer Trey Parker – eine höchst vergnügliche Angelegenheit. – Bis auf die lange zuvor ausverkaufte, animierte Vorstellung mit der «Rocky Horror Picture Show» zum 30. Geburtstag von Radio Couleur 3, waren Filme wie Ken Russels «Tommy» (1975) mit den Who, oder Pink Floyds «The Wall» (1982) von Alan Parker, «Streets of Fire» (1984) von Walter Hill, der grottenschlechte «Forbidden Zone» (1982) von Richard Elfman, oder John Waters’ «Hairspray» (1988) nicht gerade überbesucht. Ein voll besetztes Haus bescherte hingegen Fritz Langs Stummfilm «Metropolis» (1927), dessen Live-Vertonung durch das «Nouvel Ensemble Contemporain» nach der Original-Partitur von Gottfried Huppertz verdienterweise mit langen, stehenden Ovationen bedacht wurde.
Auch bei den «Films of the Third Kind», um auf das aktuelle Schaffen zurückzukommen, stachen einige Filme heraus: «Sons of Norway» zum Beispiel, der neue Film von Jens Lien, der mit «The Bothersome Man» am N.I.F.F.F. 2006 ausgezeichnet wurde: Sein heiter-melancholisches Porträt einer norwegischen Familie Ende der 70er-Jahre, mit dem minderjährigen Sohn, der Punk und die Sex Pistols entdeckt, und dem Vater, der seinen Sprössling in seiner «No Future»-Haltung noch übertreffen will, gehört wohl zu den herzerwärmensten Erinnerungen an die diesjährige Ausgabe. Zudem gibt es am Ende einen Cameo-Auftritt von Johnny Rotten, der über die Welt als Ganzes und in ihren Einzelteilen herzieht. – Auch «God Bless America» von Bobcat Goldthwait ist ein höchst aktuelles Zeitzeugnis: Arbeitslos, mit diagnostizierter tödlicher Krankheit, nimmt sich Frank die Knarre wieder aus dem Mund, da er eh nichts mehr zu verlieren hat, und richtet sie gegen alles und alle, welche die hohle, dekadente Reality-TV-Kultur repräsentieren. Entnervt vom Unsinn aus der omnipräsenten Fernseh-Kiste beginnt er einen Feldzug für die Würde der Menschen. Die überspitzten Programm-Ausschnitte, die immer wieder einmal gezeigt werden, erscheinen dabei erschreckend authentisch. Bald gewinnt er einen Side-Kick in der Gestalt einer Teenie-Frau, welche begeistert ist, dass er soeben ihr Hassobjekt aus der Schulklasse beseitigt hat. Eine höchst vergnügliche, zeitgenössische Version von «Paper Moon» (Peter Bogdanovich, 1973) und «Bonnie and Clyde» (Arthur Penn, 1967) in der Form einer bitterbösen Gesellschaftssatire. – Abel Ferraras «4:44 Last Day on Earth» ist, neben der Anklage an eine Menschheit, die ihr Ende in Kauf nimmt um auf keinen Luxus verzichten zu müssen, eine weitere Gelegenheit für Willem Dafoe, als New Yorker Bohémien seine angekratzte Abgeklärtheit angesichts von Katastrophen darzustellen, eine berührende Angelegenheit. – Wie auch «Kid-Thing», die Geschichte eines auf sich gestellten Mädchens auf dem Land, stets mit dem Zweirad unterwegs und voller unterschwelliger Aggressionen, welches eines Tages im nahen Wald eine Stimme aus einem stillgelegten Brunnen hört. Voller Zurückhaltung erzählt, tun sich hier wahrliche Abgründe auf.
Unter den «Ultra Movies», den Filmen, welche mit Vorliebe um Mitternacht gezeigt werden, stach dieses Jahr vor allem «Inbred» von Alex Chandon heraus, da hier der schwarze Humor Britanniens förmlich aus den Bildern trieft. Ein vom städtischen Sozialamt unterstützter Ausflug «to the Countryside» von vier straffälligen Jugendlichen endet, wie es die Tag-Line ankündigt: «They came in Peace – they left in Pieces» («Sie kamen in Frieden, sie gingen in Stücken»), nachdem sie das örtliche Pub «The Dirty Hole» aufgesucht haben. – «The Incident» von Alexandre Courtés lässt den Geld-Job einer Anstellung in der Kantine einer psychiatrischen Gefängnis-Anstalt für extrem gewalttätige Verbrecher, den Mitglieder einer Rock-Gruppe angenommen haben, zum Albtraum werden, als während eines Sturms mit der Elektrizitätsversorgung auch das Sicherheits-System aussteigt. Das Zusammenspiel ist nun gefragt, Improvisation. Sie machen das nicht schlecht, aber am Ende gibt es die Band nicht mehr.
Den internationalen Wettbewerb gewonnen hat dieses Jahr der irische Film «Citadel» von Ciarán Foy, eine im bröckelnden Suburbia angesiedelte Tragödie um einen jungen Vater, der seine hochschwangere Frau bei einer Attacke durch eine Schar unheimlicher Kids verloren hat, seither unter Agoraphobie leidet, und nun gegen dieselben Gestalten in Kapuzen-Jacken das Leben der dennoch geborenen Tochter verteidigen muss. Ein düsteres Bild einer von Drogen und Depression geprägten Gesellschaft, ein psychologisches Kammerspiel in stimmigen Dekors heruntergekommener Blocksiedlungen. – Die entsprechende Komödie kommt ebenfalls aus Irland: «Grabbers» von Jon Wright hatte wohl den simpelsten und wirkungsvollsten Plot zu Grunde: Fischer bringen Monster an Land, die Blut saugen, aber allergisch auf Alkohol sind: die einzige Art für das ganze Küsten-Kaff zu Überleben besteht im Dauersuff. Wenn das keine Geschichte macht. Der Streifen erhielt den Publikumspreis, wird demnach von RTS als «Film de Minuit» gezeigt werden, und kriegt von Titra Film die Untertitelung geschenkt. – Der Preis des französischen «Mad Movies»-Magazins ging dieses Jahr an «Resolution», eine originelle Low Budget-Produktion zweier junger New Yorker Filmemacher. Michael bekommt eine e‑Mail seines alten Freundes Chris, mit einem Video, welches diesen in offensichtlicher Verwirrung durch die Gegend stolpernd zeigt, und einer Karte, die seinen Aufenthaltsort bezeichnet. Er macht sich auf, seinen immer wieder mit Drogenproblemen kämpfenden Kumpel aufzusuchen, um ihn zu einem Entzug zu bewegen. Da dieser nichts davon wissen will, kettet er ihn kurzerhand an ein Leitungsrohr in dessen verfallender Behausung mitten im Wald, um ihn durch den kalten Entzug zu begleiten. In der Folge eskalieren nicht nur die Auseinandersetzungen unter den früheren Freunden, Realität und Delirium verschwimmen immer mehr.
Die Klammer zu schliessen kommen wir zum Abschluss-Film: «The Cabin in the Woods» von Drew Goddard lässt sich an wie ein ganz normaler Genre-Film: Fünf jugendliche Studierende setzen sich ab in die Wälder, um sich zu erholen. Es ist kein Freak mit Motorsäge, dem sie dann gegenüberstehen, es ist, unter der Überwachung des staatlichen Programms, welches die Gruppe ohne deren Wissen unter ständige Beobachtung gestellt hat, eine ganze Ansammlung von Monstern aus der Filmgeschichte, welche ihnen den Aufenthalt zum Albtraum gestalten, während die zynischen Wissenschaftler, wie es das Kino-Publikum in derartigen Filmen jeweils zu tun pflegt, darauf wetten, wer als nächstes über die Klinge springen wird. Eine ziemlich grimmige Variation des eigentlich immer gleichen.
Hoffentlich mehr davon im nächsten Jahr, wenn es heissen wird: «Bienvenue à cette 13ème Édition du Neuchâtel International Festival of Fantastc Films» …
Foto: zVg.
ensuite, August 2012