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«Gangs waren deine Familie»: A South Bronx Story

Von Sil­vio Sax­er - Im New York der 1890er nan­nte sich eine Jugend­bande «Bow­ery Indi­ans», in Paris gab es die berüchtigten «Apachen», und auch der spätere Kriegs­geg­n­er John Lennon führte in Liv­er­pool eine Bande an. Im New York der 1960er gab es Hun­derte Gangs: die Black Spades, Sav­age Skulls, Sav­age Nomads, Mon­gols, Tur­bans, Peace Mak­ers etc. In der vor­liegen­den Graph­ic Nov­el wird die Geschichte von Ben­jamin Melen­dez aka Yel­low Ben­jy erzählt, der sich mit 14 Jahren als Präsi­dent der Ghet­to Broth­ers (mit mehr als 2000 Mit­gliedern) u. a. um deren «Per­son­alpla­nung» küm­merte. «Die South Bronx war wie Dres­den. Und wir waren die Könige dieses Trüm­mer­haufens. » Ihre Col­ors: Aufnäher, die Müll­ton­nen zeigen. Wir erleben, wie sich Ben­jy über die ver­schwiege­nen sam­stäglichen Rit­uale sein­er Eltern wun­dert, die diese aus Puer­to Rico mitgenom­men haben. Er und seine Geschwis­ter hinge­gen «wur­den Nuy­or­i­cans». Ben­jy erzählt, wie man, um Respekt zu zollen, seine Weste aus­zog, wenn man das Gebi­et ein­er anderen Gang betrat. Doch der Schutz, den die z. T. eth­nisch durch­mis­cht­en Gangs bieten, und die streng rit­u­al­isierte Sorge um das eigene Vier­tel schla­gen um in eskalierende Gewalt. Auch eine «Spal­tung zwis­chen den Schwarzen und den Puer­to Ricanern» dro­ht. Statt «gegen das Sys­tem zu kämpfen, bekämpften wir uns gegen­seit­ig.» Als zur Rache für einen ermorde­ten Ghet­to Broth­er aufgerufen wird, stellt sich Ben­jy quer. Er beruft unter dem Ein­fluss eines Joe von der «Black Pan­ther Partei» 1971 eine noch nie dagewe­sene Ver­samm­lung aller Ban­den ein, und so unterze­ich­net «Die Fam­i­lie» schliesslich ein Waf­fen­still­standsabkom­men. Der eben­falls beteiligte Afri­ka Bam­baa­ta, Grün­der der Uni­ver­sal Zulu Nation, damals War­lord der Black Spades, wird dieses später ein «machtvolles Zeichen» und Fun­da­ment für die frühe Hip-Hop-Kul­tur nen­nen. Andere Vier­tel wer­den nun öfter besucht, um sich in neuer­fun­de­nen Diszi­plinen und ein­er neuen Art von Wet­tkämpfen zu messen: die heute wohl glob­al­isierteste Jugend­kul­tur über­haupt entste­ht. Aber es sei eine «Geschichte ohne wirk­lich­es Hap­py End» heisst es im Nach­wort. Denn mit neuen Dro­gen und neuen Waf­fen kehren später neue For­men von Gewalt zurück. Es ist auch eine Geschichte von Stad­taufw­er­tung und Ver­drän­gung. Ben­jy wird Vater, ver­lässt die Gang und das Vier­tel. Doch die Suche nach der «selt­samen Reli­gion » sein­er Eltern führt ihn wieder dor­thin zurück, und er lernt so auch die Herkun­ft des Begriffs «Geto» aus dem Venedig des 16. Jahrhun­derts ken­nen. 2011 schliesst die let­zte Syn­a­goge in der Bronx ihre Türen. Eine Migra­tions­geschichte ver­liert sich in Stad­taufw­er­tungs­dy­namiken. Eine Geschichte, die zeigt, wie sich lokal und glob­al aus­geübte Gewalt und Iden­tität ver­schränken, und wie es ein­er «Gen­er­a­tion, die ohne Hoff­nung aufwuchs» eine Zeit­lang möglich war, den unter sein­er schw­eren Rüs­tung ächzen­den Goliath auf Dis­tanz zu hal­ten und sich gemein­sam zu organ­isieren.

Julian Voloj / Clau­dia Ahler­ing GHETTO BROTHER avant-ver­lag 2015 128 S.

Artikel online veröffentlicht: 15. Juni 2016