Von Florian Imbach — Fritz Muri wurde 1955 in Luzern geboren. Er ist ein Schweizer Dokumentarfilmer und arbeitet seit 1982 beim Schweizer Fernsehen. Einem grösseren Publikum wurde er bekannt mit grösseren Produktionen wie «Mythos Swissair», «Der Alleingang» und zuletzt dem Dokumentarfilm über Marc Forster.
Das Gespräch wurde am 18. Februar im Hauptgebäude des Schweizer Fernsehens in Zürich aufgenommen.
Fritz Muri, du bist bekannt als Dokumentarfilmer. Dein neuster Streich ist ein Kurzfilm, «Pulp Kitchen». Gehst du in eine neue Richtung?
Ich habe sehr lange Dokumentarfilme und Fernsehbeiträge gemacht und hatte Lust etwas Neues zu machen, neue Wege zu gehen. Dokumentarfilme zu machen, ist eine Sache. Fiktion aber ist eine Herausforderung, weil ich dort die Geschichte und alles andere neu erfinden kann. Ich habe die absolute Kontrolle über jedes Detail.
Reizt dich das? Du hast viele Dokumentarfilme gedreht. Dort fängst du ein, was passiert. Beim Spielfilm oder Kurzfilm kannst du alles kontrollieren. Ist es dieses Element, das dich reizt?
Auch beim Dokumentarfilm geht es darum, eine Geschichte zu erzählen. Das ist der Kern. Du erzählst die Geschichte, die halt da ist. Doch beim Spielfilm kann ich die Geschichte selbst erfinden. Wenn ich finde, dass der Protagonist jetzt noch diese oder jene Herausforderung haben soll, dann kann ich ihm diese geben. Beim Dokumentarfilm kann ich das nicht. Beim Spielfilm habe ich die Geschichte unter Kontrolle, ich kann sie entwickeln und den Zuschauer überraschen.
Als Drehbuchautor bist du auch aktiv. In der Schweiz gibt es diese Tradition nicht, Drehbuchautor und Regisseur als getrennte Rollen. Regisseure schreiben oft aus der Not selbst das Drehbuch. Welche Erfahrungen hast du als Drehbuchautor gemacht?
Ich wollte Drehbücher schreiben, weil ich sah, dass es in der Schweiz viele talentierte Leute gibt, die Filme drehen. Aber die Geschichten, die sie verfilmen, sind oft relativ dürftig. Es gibt in der Schweiz an und für sich keine Kultur des Drehbuchschreibens. So viel ich weiss, wird das in der Ausbildung auch nicht angeboten. Filmausbildung ist sowieso relativ jung in der Schweiz und das Drehbuchschreiben ist wirklich noch nirgends. Das ist im Ausland anders, Drehbuchschreiben ist ein Beruf, das kann man lernen und es gibt viele Leute, die davon leben. Amerika kennt eine lange Tradition des Drehbuchschreibens. In der Schweiz gibt es zurzeit nicht einmal eine Fernsehserie, für die man regelmässig schreiben könnte. Das ist eine absolute Marktlücke und ich habe mir gedacht: «Hey, das ist eine Chance für gute Geschichten.» Durch meine lange Erfahrung als Fernsehjournalist bin ich an so viele tolle Geschichten geraten, bei denen ich immer dachte, dass sie ein guter Filmstoff sein könnten. Die müsste man noch in eine gewisse Form bringen, dann wären das Filmeschichten. So bin ich zum Schreiben gekommen und habe von Anfang an offene Türen aufgefunden. Gerade als ich zu schreiben begann, hatte der Regisseur Michael Steiner seine Filme «Grounding» und «Mein Name ist Eugen» gemacht. Ich dachte damals: «Hey, da ist jemand, der wirklich was Neues bringt.» Ich nahm Kontakt mit ihm auf und gleich meine erste Geschichte gefiel ihm. Daraus ist ein Drehbuch geworden, das aber noch nicht verfilmt wurde.
Du hast es erwähnt: Geschichten sind sehr wichtig. Du hast auch eigene Geschichten gemacht, ich denke da an «Mythos Swissair», «Alleingang» oder deinen Dokumentarfilm über das Rauchen. Diese Geschichten beschreiben Umbrüche, interessieren dich diese besonders?
Ich finde historische Dokumentarfilme, die zeigen, wie sich etwas entwickelt, spannend. Aus der Geschichte kann man sehr viel lernen: «Wer aus der Geschichte nichts lernt, muss sie wiederholen.» Wenn ich ins Archiv steige und schaue, wie die Gesellschaft nur schon zwanzig Jahre früher war – da hätten wir beide hier beim Interview sicher eine Zigarette geraucht. Das ist eine unglaubliche Entwicklung, die da stattgefunden hat. So etwas aufzuzeigen, finde ich spannend.
Umbrüche sind das eine, aber du hast auch ein Flair für Krisen. Du warst zum Beispiel 2006 im Nahen Osten und hast von dort aus berichtet. Gibt es da auch eine spezielle Anziehung? Zieht es dich an solche Orte?
Nicht unbedingt. Als Journalist bist du natürlich am liebsten dort, wo etwas passiert. Dort wo nichts passiert, gibt es auch nicht zu filmen. Oder man recherchiert und findet immer etwas, das spannend ist. Ein Krieg oder eine Krise, auch da geschieht ein Umbruch, da entsteht etwas Neues. Auch aus der Finanzkrise entsteht jetzt etwas Neues. Das ist journalistisch grundsätzlich spannend.
Recherche ist aber nicht dein Thema. Du willst wirklich dokumentieren, du willst es auch erleben, so ist zumindest mein Eindruck.
Nein. Als Journalist, und ich rede jetzt als Journalist, nicht als Filmemacher, da bin ich gewissermassen in einem Logenplatz der Weltgeschichte. Ich erlebe etwas eins zu eins. Das ist ein gewaltiger Reiz, aber ich verstehe mich auch als Recherchejournalist. Ich habe auch schon ein halbes Jahr an einer einzigen Geschichte recherchiert.
Die beiden Elemente siehst du also klar zusammen? Recherche und die Geschichte selber nachher zu erzählen. Beide Elemente interessieren dich?
Ja, natürlich. Man muss eine Geschichte finden. Eine Geschichte findet man durch Recherche. Nehmen wir das Beispiel Krieg: Da gehört auch Recherche dazu. Beim Libanonkrieg wollte ich herausfinden, was der Grund für diesen Krieg ist. Ich ging zu dieser Familie, deren Sohn, ein israelischer Soldat, von der Hisbollah entführt worden war. Mich nahm wunder: «Wie ist das passiert?» Es braucht immer Recherche.
Du erzählst dies in Bildern. Du bist schon lange im Bildergeschäft, wenn ich das so sagen darf. Wie bist du zu diesem Medium gekommen?
Die Geschichte, wie ich zum Film gekommen bin, ist interessant. Ich war 14 Jahre alt, als im Berner Oberland ein Film gedreht wurde. Es war ein James-Bond-Film. Ich war dort im Schulskilager und habe jeden Tag diese Helikopterflotten gesehen, die da herumflogen, die Kameraleute, die an den Helikoptern hingen. Das hat mich fasziniert. Ich habe dann bald mal eine Kamera in die Hand genommen und in der Pfadi einen Film gemacht.
Damals war gerade irgendein Naturschutzjahr, das war dazumal noch gar kein Thema, damals hat noch niemand von Naturschutz gesprochen. Lustigerweise wurde dieser Film dann noch zum Geschäft, wir konnten den überall zeigen. Wir haben Geld verdient damit, denn der Film wurde von Schule zu Schule weitergereicht. So. Damals gab es in der Schweiz noch keine Filmausbildung. Die einzigen Möglichkeiten dazu waren in Amerika und Deutschland. Die Filme, die damals in der Schweiz produziert wurden, haben mir nicht wirklich gefallen. Und so habe ich mich relativ früh für den Journalismus entschieden.
Und immer mit dem Gedanken, dass du eines Tages Filme machen willst?
Nein, nein. Ich wollte erst Fotograf oder eben Journalist werden. Die Entwicklung war nicht so gradlinig. Ich arbeitete erst fünf Jahre für Printmedien und wollte dann etwas anderes machen und bin zum Fernsehen gekommen. So kam dann das Bild dazu. Ich bin sehr lange sehr zufrieden gewesen mit dieser Kombination von Journalismus und Film.
Aber das Interesse am Bild, letztlich auch mit Kurzfilmen, ist jetzt gegeben?
Ich habe sehr lange Fernsehjournalismus gemacht, habe also Journalismus und Film kombiniert, auch mit Dokumentarfilmen. Aus verschiedenen Gründen bin ich jetzt zum fiktionalen Film gekommen. Ich habe einen Dokumentarfilm über Marc Forster gemacht und gesehen, wie das funktioniert und gesehen, dass auch in Hollywood nur mit Wasser gekocht wird. So bin ich zuerst zum Drehbuchschreiben gekommen.
Der Dokumentarfilm über Marc Forster, den du erwähnt hast, hat ziemlich viele Reaktionen ausgelöst, es wurde breit darüber diskutiert. Bekommst du das selbst zu hören, wie deine Filme diskutiert werden?
Gerade der Film über Marc Forster hat sehr viele Mails ausgelöst von Leuten, die die gleiche Karriere machen wollen wie Marc Forster. Marc Forsters Geschichte zeigt ja, wie schwierig es ist, seinen Traum zu erfüllen. Selbst jemand, der so viel Talent hat wie er, brauchte zehn lange Jahre bis zu seinem Durchbruch. Er schloss mit 22 die Filmschule ab und es dauerte zehn Jahre bis er seinen ersten grossen Film machen konnte. Diese Durststrecke erleben viele Leute, die Filme machen. Weil es eben so teuer ist, ist es schwierig rein zu kommen. Für einen Zeitungsartikel brauchst du einen Computer und hast den geschrieben. Beim Filmemachen brauchst du viel Technik. Doch seit einigen Jahren ist das auch nicht mehr so. Heute kann jeder einen Film machen. Es war noch nie so billig, einen Film zu produzieren. Heute reichen irgendeine billige Kamera, ein Laptop mit Schnittprogramm und einige Kollegen mit ein wenig Schauspieltalent und du machst deinen Film. Wenn du Talent hast, funktioniert das. Ich wundere mich trotzdem, wie wenig Junge nicht einfach mal «machen». In der Schweiz wartet man immer erst auf das grosse Geld von der Filmförderung.
Ist dies ein Aufruf an die Jungen von heute, einfach mal auszuprobieren?
Ich glaube schon. Es war wirklich noch nie so einfach. Es braucht zwar ein wenig Zeit, und ein Dokumentarfilm ist noch einfacher zu machen als ein Spielfilm. Ich habe es ja auch probiert mit «Pulp Kitchen». Der Film war geplant als Low-Cost-Film: eine Frau in einem Raum und eine Amateurkamera. Das war ursprünglich die Idee. Schlussendlich wurde es dann doch ein teuerer Film, weil ich das Glück hatte, jemanden zu finden, der das Projekt finanzierte.
Ein Dilemma. Die Produktionskosten wären tief, weil das Material günstig ist und Leute da sind, die mitmachen, aber die Jungen versuchen es erst gar nicht?
Es ist doch einfach Wahnsinn, welche Möglichkeiten man heute hat, die wir eine Generation früher nicht hatten. Heute filmst du mit einer einfachen Amateurkamera oder dem eigenen Handy, du schneidest auf dem Laptop und hast mit «Youtube» ein Kino, das deinen Film weltweit abspielt. So einfach war es noch nie.
Ein wahnsinniges Dilemma. Du hättest dir das wahrscheinlich gewünscht, früher so produzieren zu können?
Klar. Und so entstehen auch wirklich gute Sachen. Filme, die über «Youtube» ein junges Publikum finden.
Aber damit hast du noch kein Geld gemacht.
Nein, damit hast du noch kein Geld gemacht, aber wenn du damit zu einem Produzenten gehst und sagst: «Guck dir mein Video an, es wird von einem Millionenpublikum verfolgt», dann kriegst du wahrscheinlich eher die Chance, einen grösseren Film zu machen. Aber man muss irgendwann anfangen.
Du hast vorhin die Filmförderung erwähnt. Meinst du damit, dass man wartet, bis man irgendwann mal Unterstützung bekommt, anstatt ein Risiko einzugehen und selbst eine Kamera zu kaufen, Leute zu engagieren und Zeit zu investieren? Das müsste man doch als ersten Schritt machen.
Klar. Und man sollte es geschickt machen. Wichtig ist auch das Marketing. «Youtube» alleine reicht noch nicht. Du musst es irgendwie vernetzen und so weiter, aber da gibt es auch Spezialisten. Dann hilft dir ein Freund, der sich beim Internet gut auskennt, der diesen Teil beherrscht.
Die Freunde, die du heute teilweise hast, sind ja auch einflussreiche Menschen. Beispielsweise bei deinem Dokumentarfilm fürs Schweizer Fernsehen über das WEF konntest du mit Leuten sprechen, an die andere gar nie gekommen wären. Wie gehst du mit diesem Verhältnis um?
Das ist eigentlich ein ganz professionelles, entspanntes Verhältnis. Berühmte Leute sind nicht einfach komplizierter. Heute ist es aber so, dass jeder fünf Pressesprecher hat, was das ganze ein wenig kompliziert macht. Ich kenne aber viele Leute von früher, zu denen habe ich direkten Kontakt. So funktioniert es viel einfacher.
Das Handy klingelt. Das Gespräch wird für einige Minuten unterbrochen.
Wir sind bei den Dok-Filmen stehengeblieben. Die Beziehung auch zu berühmten Menschen ist etwas Normales für dich, nichts Spezielles. Kann dies nicht auch in den Kopf steigen?
Das dies einem selbst in den Kopf steigt?
Ja, zum Beispiel dir.
Nein. Das ist einfach Teil der Routine. Es ist klar, dass Leute mit einem gewissen Leistungsausweis oder die sonst interessant sind, irgendwann einen Promistatus haben. Aber das ist ja nichts Besonderes.
In der Schweiz ist es nichts Besonderes. Ich würde gerne nochmals auf Marc Forster zu sprechen kommen. Zeigt dieser Film nicht ein Schweizer Dilemma? Dass in der Schweiz eine solche Karriere einfach nicht machbar ist, weil es die entsprechenden Möglichkeiten in der Schweiz nicht gibt. Ein Ur-Schweizer Dilemma.
Ich weiss es nicht. Vielleicht hätte Marc Forster in der Schweiz schneller einen Film gemacht, aber dann mit den Zwängen, die hier vorhanden sind. Bei ihm kann man sagen, dass es kein Schweizer Dilemma ist, weil er seine ganze Karriere in Amerika gemacht hat. Er ging gleich nach der Matura nach Amerika und absolvierte dort die Filmschule und versuchte dort reinzukommen. Aber mein Film zeigt auch, wie schwierig es ist, einen Film finanziert zu bekommen. Was bei ihm als Problem dazu kam, war seine Haltung, keine schlechten Filme machen zu wollen. Er hätte sicher irgendeinen Werbespot drehen können, aber das wollte er nicht. Er wollte nur künstlerisch anspruchsvolle Filme machen. So wird es natürlich schwieriger.
Du machst Dokumentarfilme beim Schweizer Fernsehen. Wie wichtig ist es für dich, dass die Finanzierung abgesichert ist?
(Lange Pause) Ja gut, ich muss ja auch hier für meine Themen kämpfen. Es ist ja nicht so, dass ich einfach alles machen kann. Aber ich kann mit einer gewissen Gelassenheit arbeiten. Was dazu zu sagen ist: Beim Schweizer Fernsehen hat man viel weniger Geld zur Verfügung, als wenn man frei produziert. In einer freien Produktion bekommt man ein Mehrfaches an Geld und Zeit. Das habe ich hier nicht. Für einen Dok-Film habe ich 16 Drehtage. Das heisst, dass der Film etwa 100’000 Franken kostet. Plusminus, zwischen 80’000 und 120’000 Franken. Während die meisten mit Fördergelder produzierten Filme 400’000 Franken oder mehr kosten.
Wie ist die Zusammenarbeit mit deinem Kameramann? Welche Erfahrungen hast du gemacht? Wie gestaltest du dies in einem Dokumentarfilm?
Beim Film, ob Dokumentarfilm oder nicht, ist der wichtigste Punkt, mit welchen Leuten du zusammenarbeitest. Das Casting der ganzen Crew ist wichtig. Du musst Leute finden, die die Ideen umsetzen, die du hast. Ich habe immer das Glück gehabt, dass ich mit sehr guten Leuten zusammengearbeitet habe.
Bist du jemand, der jedes einzelne Bild kontrolliert oder lässt du die Leute machen?
Das kommt darauf an. Zu den meisten Kameraleuten habe ich absolutes Vertrauen. Dann gibt es aber auch Dinge, bei denen ich ganz genaue Vorstellungen habe. In diesen Fällen bin ich sehr präzise in meinen Wünschen an den Kameramann.
Foto: zVg.
ensuite, April 2009