Von Hannes Liechti - Und wieder rollt der Ball. Die FIFA-Weltmeisterschaft in Südafrika ist Gesprächsstoff des Monats. Andere brisante Themen wie Banken, Griechenland, Euro oder Libyen haben es schwer, gegen König Fussball anzutreten. Anstelle von Krieg, Krisen und Katastrophen berichten die Medien nun über Südafrika und das runde Leder. Warum sollte sich das Kulturmagazin ensuite dieser Logik entziehen? Anlass genug also, ein Stück Kultur des Landes am Kap vorzustellen: Der Musikstil Isicathamiya.
Viele kennen Isicathamiya, ohne sich dessen bewusst zu sein. Es gibt vermutlich nur wenige, denen das Lied «The Lion Sleeps Tonight» oder der Soundtrack zu Walt Disneys «Lion King» noch nie zu Ohren gekommen ist. Unbegleitete und basslastige Männerchöre sind es, die sogleich an Afrika erinnern: Bilder mit blutroten Sonnenuntergängen in der Savanne schiessen uns durch den Kopf. Diese kitschigen Assoziationen lassen vermuten, dass hinter diesem Musikstil mehr steckt. Und so ist es: Isicathamiya ist ein Stück Zulugeschichte, ein Stück Arbeitergeschichte; aber auch ein Teil der Globalisierungsgeschichte.
Pirschen wie eine Katze Isicathamiya entstand anfangs des vergangenen Jahrhunderts in den urbanen Gegenden der südafrikanischen Provinz KwaZulu-Natal, hauptsächlich in und um die Küstenstadt Durban. In dieser Region lebt bis heute der überwiegende Teil der Zulus, der grössten ethnischen Gruppe Südafrikas. Die fortschreitende Industrialisierung trieb immer mehr Wanderarbeiter vom Land in die Städte. Sie suchten in den zahlreichen Minen Arbeit. Hier schlossen sich Familienmitglieder oder sog. «Homeboys», Arbeiter, die aus dem gleichen Homeland stammten, zu ersten Isicathamiya-Chören zusammen. Die Musik ermöglichte ihnen, einerseits durch die anderen Chormitglieder eine Verbindung in die Heimat herzustellen und andererseits, sich auf diese Weise mit dem städtischen Leben auseinanderzusetzen.
Damit ist aber noch nichts über die musikalischen Eigenschaften dieses Musikstils gesagt. Hierbei ist das Aufeinandertreffen von ländlichen und städtischen Traditionen zentral: Auf der einen Seite standen Kriegs- und Hochzeitslieder der Zulu, die oftmals eng mit speziellen Tanzformen verbunden waren. Auf der anderen Seite beeinflussten die damals äusserst populären afroamerikanischen Vaudeville- und Ragtimetruppen die schwarze Arbeiterschaft. Vaudeville war eine Form von Unterhaltungstheater mit einer losen Abfolge von Musik‑, Tanz- und Akrobatiknummern. Ein drittes, sehr gewichtiges Einflussfeld stellten christliche Hymnen dar, die durch Missionare bis in die entferntesten ländlichen Zipfel verbreitet wurden. Aus diesen Einflüssen entstand Isicathamiya. Die Hauptmerkmale dieses einzigartigen und rein durch Männer praktizierten Stils waren der Acapella-Gesang, die Vierstimmigkeit, das überproportionale Gewicht der Bassstimmen sowie die traditionelle Verbindung von Musik und Tanz. Aus letzterem lässt sich die Bedeutung des Wortes Isicathamiya ablesen: Es leitet sich nämlich vom Wortstamm «cathama» ab, was soviel wie «Pirschen wie eine Katze» bedeutet, und einen Tanzstil beschreibt, bei welchem es darum geht, auf möglichst leisen und leichten Sohlen wie auf Zehenspitzen zu tanzen.
Wettbewerbe lange vor Musicstars Langsam entwickelte das Arbeitermilieu ein eigenes Kulturleben mit Gewerkschaften, Tanz- und Sportklubs. Ein zentrales Element waren dabei die bis heute regelmässig stattfindenden Gesangswettbewerbe. Sie finden Samstagabends in den Arbeiterhostels von Johannesburg und Durban statt und dauern bis in die frühen Morgenstunden des Sonntags. Jeder teilnehmende Chor präsentiert in der Regel drei Songs: Den ersten während des Einzugs, den zweiten als Hauptsong auf der Bühne und den dritten während des Auszugs. Bewertungskriterium ist nicht nur der Gesang an sich, sondern auch die einheitliche Kleidung sowie die Choreografien. Die Jurymitglieder werden unmittelbar vor dem Wettbewerb direkt von der Strasse weg rekrutiert. Es sind oft Weisse, da bei Schwarzen die Gefahr besteht, in irgendeiner Weise befangen zu sein. Häufig sprechen diese Jurymitglieder folglich kein isiZulu, die Sprache der Zulu, in welcher die Songtexte üblicherweise geschrieben sind. Deswegen wurde schon früh damit begonnen, den Liedern englische Titel hinzuzufügen oder gar ganze Songs auf Englisch zu schreiben. Der Inhalt der Texte ist von traditionellen Kriegs- und Hochzeitsliedern der Zulu, christlichen Inhalten sowie von für die Wanderarbeiter aktuellen Themen wie Heimat und Liebe geprägt. Schon lange vor dem Musicstars-Zeitalter also waren Wettbewerbe ein zentraler Bestandteil dieses südafrikanischen Chorstils.
Der erste Star: Solomon Linda Immer wieder wurden Neuerungen in den Isicathamiya eingebracht. In den 30er-Jahren war es Solomon Linda, der Leadsänger eines Chores mit dem Namen Evening Birds, welcher den Stil entscheidend veränderte. Er verstärkte beispielsweise das Bassregister. Während dies noch als Rückgriff auf die Zulutradition gewertet werden kann, waren die nächsten zwei Innovationen eine direkte Folge des Wunsches der Wanderarbeiter nach mehr Modernität. Linda führte einheitliche Uniformen ein: Gestreifte Anzüge, schwarze Schuhe und Hüte sollten das Bild des kultivierten und modernen Städters vermitteln. Weiter benutzte er ein simples, westliches Harmonieschema als Grundlage für seine Songs. Dieses Schema wurde zur Hauptstütze aller weiteren stilistischen Entwicklungen des Genres überhaupt. Unter anderem benutzte es Linda in seinem Song «Mbube» (Löwe). Die originale Aufnahme von 1939 wurde in Südafrika mehr als 10 000 mal verkauft und wurde zum erfolgreichsten südafrikanischen Hit aller Zeiten. Er wurde gar namensgebend für das ganze Genre: Oft wird Isicathamiya schlicht Mbube genannt. Auch die weitere Geschichte des Songs ist erwähnenswert: 1952 übersetzte der amerikanische Folk-Musiker Pete Seeger den Text und machte aus dem «Uyimbube» im Refrain den Ausruf «Wimoweh». Eine weitere Übersetzung und textliche Ergänzung von George David Weiss wurde alsbald von den Tokens und über 150 weiteren Interpreten unter dem Titel «The Lion Sleeps Tonight» eingespielt und weltberühmt. Obwohl «Mbube» dazu beitrug, dass Gallo zur grössten Plattenfirma Südafrikas wurde, bekam Linda nur eine Pauschalgebühr von weniger als 5£ für seine Kompositionsrechte. So kam es, dass die Nachkommen sich keine würdige Bestattung des ersten richtigen Stars des Isicathamiyas leisten konnten.
Ladysmith Black Mambazo und der Sprung auf die internationale Bühne Ende der 50er‑, Anfang der 60er-Jahre geriet Isicathamiya in eine Krise. Ohne die Gruppe mit dem Namen Ladysmith Black Mambazo wäre der südafrikanische A‑capella-Chorstil wohl langsam ausgestorben. Der 1965 gegründete Chor sollte später die erfolgreichste Isicathamiya-Formation aller Zeiten werden. Der Name verdeutlicht derweil die Verankerung in der Tradition: «Ladysmith» bezeichnet den Herkunftsort des Leadersängers Joseph Shabalala und auch das Wort «Black» stellt eine Verbindung zum Land her: Traditionell wurden Musiker dort Ochsen genannt. Die wirklichen Ochsen wiederum trugen verschiedenfarbige Gespanne, wobei das schwarze darunter das stärkste war. «Mambazo» schliesslich stammt vom Wort «Axt» und soll die Übermacht des Chores bei Wettbewerben verdeutlichen. Diese Überlegenheit gegenüber anderen Chören führte für Ladysmith Black Mambazo bald Konsequenzen mit sich. 1973, nach dem Erscheinen ihres Débutalbums «Amabutho» (Krieger), das als erstes afrikanisches Album Gold-Status erreichte, musste der Chor auf die weitere Teilnahme an Wettbewerben verzichten und sich vorwiegend konzertanten Aufführungen widmen. Dies ist für das Genre bis heute mehr Ausnahme denn Regel. So ist Ladysmith Black Mambazo nach wie vor der einzige professionelle Isicathamiya-Chor.
Der internationale Durchbruch gelang Joseph Shabalalas Gruppe 1986 durch die Kollaboration mit Paul Simon und dem daraus entstandenen Album Graceland. Es wurde eines der erfolgreichsten Alben der 80er-Jahre, löste jedoch auch viel Kritik aus: Simon wurde der Vorwurf gemacht, er nütze die südafrikanischen Musiker aus und betreibe einen musikalischen Imperialismus. Des Weiteren wurde der amerikanische Singer-Songwriter damit konfrontiert, mit dieser Zusammenarbeit den gegen das Apartheid-Regime verhängten Kulturboykott zu unterlaufen. Fakt ist aber, dass Ladysmith Black Mambazo dank Graceland den Sprung auf die internationale Bühne langfristig schaffte. Bis heute veröffentlichte der Chor über 40 Alben, gewann drei Grammys, arbeitete mit namhaften Musikern wie Peter Gabriel, Stevie Wonder, Ben Harper oder George Clinton zusammen und trat auf der ganzen Welt auf, u.a. in der Royal Albert Hall in London und am Jazzfestival Montreux.
Ein Aushängeschild der Weltmusiksparte 1987 definierten Musikjournalisten und Vertreter der wichtigsten Plattenfirmen «Weltmusik» als neues Verkaufssegment. Dahinter stand der Versuch, unabhängige Musik anderer Kulturen ausserhalb der westlichen Musikindustrie ebenda zu vermarkten. So problematisch dieses Konzept auch sein mag, Ladysmith Black Mambazo hat seinen Erfolg massgeblich dieser Entwicklung zu verdanken. Heute wird der Chor als kultureller Botschafter Südafrikas präsentiert und gilt als Aushängeschild der Weltmusiksparte. Es ist undenkbar, dass Ladysmith Black Mambazo in den zahlreichen TV-Specials, welche diesen Monat zur Regenbogennation ausgestrahlt werden, keinen Platz findet. Die Formation um Joseph Shabalala gehört ebenso zu Südafrika wie Nelson Mandela. Die Musikindustrie verpasst es derweil nicht, Isicathamiya als authentisches südafrikanisches Musikgenre zu vermarkten. Schon nur der Blick auf die Geschichte hat aber gezeigt, dass dies keineswegs so ist. Elemente wie die Vierstimmigkeit, das Harmonieschema oder die einheitliche Kleidung gehen eindeutig auf westliche Einflüsse zurück. Der Stil ist nur insofern authentisch, als dass er Teil der Kultur der Zulu-Arbeiterklasse ist, die sich mit der beginnenden Globalisierung arrangieren mussten, einen eigenen Ausdruck suchten und gleichzeitig nach Modernität strebten. Es ist nicht überraschend, dass gerade dieser Stil mit seiner Synthese aus traditionellen, exotischen und westlichen, vertrauten Elementen im Westen in diesem Masse Anklang findet. Allerdings ist es interessant, dass Isicathamiya bei uns nur dank westlichen Kollaborationen (Paul Simon) oder Adaptionen («The Lion Sleeps Tonight») bekannt wurde. Der vermeintlich authentisch-traditionelle Stil Isicathamiya wird zu einem Produkt der musikalischen Globalisierung.
Diese kritischen Anmerkungen sollen aber keineswegs die musikalische Ausdruckskraft dieses stimmungsvollen A‑cappella-Gesangs schmälern. Joseph Shabalala setzt sich mit einem Slogan zum Ziel, mit Ladysmith Black Mambazo auf der ganzen Welt «Love, Peace and Harmony» zu verbreiten und liefert somit selbst die treffendste Beschreibung seiner Musik. Mitunter ein guter und willkommener Kontrast zu den «Seven Nation Army»-Fangesängen, die uns diesen Monat wieder erwarten. Südafrika bietet allerdings noch weit mehr als Isicathamiya. Insbesondere im Bereich der Rock- und Pop-Musik hat im vergangenen Jahr das Débutalbum der Indie-Rockband BLK JKS (sprich: Black Jacks) Aufsehen erregt. Musikmagazine wie Spex wählten After Robots mit seinem Mix aus Afro-Jazz, Postpunk und Mbaqanga-Blues zum Album des Monats und verglichen die Südafrikaner mit TV on the Radio. Wem hier immer noch zu viel Weltmusik drin ist, dem sei der Auftritt der über und über britisch anmutenden Parlotones aus Johannesburg am Gurtenfestival 2010 ans Herz gelegt.
Foto: zVg.
ensuite, Juni/Juli 2010