Von Julia Richter — Der Berner Künstler Mats Staub zeigt im Museum für Kommunikation, warum Erinnerungen wichtig sind.
Herr Lüthi musste mit 21 ins Gefängnis weil er den Militärdienst verweigerte. Das war 1989. Frau Krähe wurde im Jahr 1949 21, verliess das zerstörte Deutschland und fuhr mit dem Dampfzug in die Schweiz – «keine Ruinen, nur schön gekleidete Menschen», stellte sie dort erstaunt fest. Frau Richards ist 2007 21 geworden und war in Rostock am G8-Gipfel – wo es sich durch «einen Dunst von Tränengas» anfühlte «wie im Krieg».
In der Ausstellung «21 – Erinnerungen ans Erwachsenwerden», die gegenwärtig im Museum für Kommunikation in Bern zu sehen ist, befragt der Künstler Mats Staub 50 Menschen verschiedener Generationen, was sie mit 21 beschäftigt hat, wo sie waren, was sie taten. Die titelgebende Zahl «21» steht für das frühere Volljährikeitsalter, und damit für einen wichtigen Zeitpunkt im Prozess des Erwachsenwerdens.
Aus Voyerismus wird unfreiwillige Selbstbetrachtung In der Videoinstallation im Museum für Kommunikation gibt es eine Besonderheit: Es handelt sich um eine Galerie von sich selbst zuhörenden Menschen. Drei Monate nach Aufzeichnung der ersten Gespräche hat Staub alle Interviewten wieder getroffen und ihnen die komprimierten Tonaufnahmen ihrer Erzählungen vorgespielt. Dabei hat er die Reaktionen der Menschen gefilmt, die sich selbst über ihr 21. Lebensjahr sprechen hören.
Das ganze schafft eine asymmetrische Situation: Der Ausstellungsbesucher schaut Menschen dabei zu, wie sie sich Erinnern. Man tritt in eine einseitige Interaktion mit unbekannten Personen, erfährt, was sie erlebt haben und was sie beim Prozess des Erwachsenwerdens besonders beschäftigt hat. Aus einer Art von Voyerismus wird schnell eine unfreiwillige Selbstbetrachtung: Was habe ich eigentlich gemacht und gedacht, als ich 21 war?
Das «Erinnerungsbüro» Genau das ist es, was Mats Staub mit seiner Arbeit erreichen will: Dass sich die Menschen durch die Auseinandersetzung mit den Erinnerungen anderer mit ihrer eigenen Biographie beschäftigen.
In seinem Langzeitprojekt «Erinnerungsbüro» versucht der 1972 in Bern geborene Staub, die Erinnerungen von Menschen aller Altersstufen und Gesellschaftsschichten festzuhalten. Hierfür verwendet er verschiedene Medien – Webplattformen werden ebenso zum Erinnerungsarchiv wie Fotos und Ton- und Videoaufnahmen.
So erscheint das Erinnerungsbüro als eine Art Datenbank. Beispielsweise kann dort jeder – auf Wunsch auch anonym – die zehn wichtigsten Erlebnisse seines Lebens festhalten. «Ich heirate und merke am selben Tag, dass es ein Fehler ist,» erinnert sich beispielsweise Dolores. Die Erinnerungs-Konservierung gibt es auch in verdichteter Version: Im Projekt «Die Namen der Liebe». Hier sind Menschen dazu aufgefordert, die Namen derer zu sagen, die sie als Liebe des Lebens empfinden. Ein orchestriertes Tongebilde, in dem Erinnerungen an Menschen auf Namen reduziert werden.
In vielen seiner Projekte tritt Staub als Zuhörer auf. Etwa, als er Enkelinnen und Enkel im Projekt «Meine Grosseltern» dazu auffordert, über ihre Erinnerungen an die Grosseltern zu sprechen. Keine Prominenz, keine Dramen, keine schnittigen Anekdoten, sondern das Kleine, Subtile, die Zwischentöne.
Erinnerungen als Teil der Identität Das eigentliche Schöne an Staubs Werk ist, dass er auf leicht zugängliche Art und Weise die Wichtigkeit der Erinnerung herausstreicht. Und dabei weder zu stark ins Wissenschaftliche noch ins Nostalgische abdriftet. Nur Erinnerungen verhelfen den Menschen zu einem Verständnis dessen, was sie sind und warum.
Darauf macht auch die Ausstellung «21 – Erinnerungen ans Erwachsenwerden» aufmerksam. Darüber nachzudenken, was einem selbst mit 21 Jahren widerfuhr kann bereichernd, erklärend, oder auch schmerzhaft sein. Es kann von zentraler Bedeutung sein, sich Vergangenes zu vergegenwärtigen – denn jedes Erlebnis ist ein Baustein der Persönlichkeit und kann zu einem Teil der eigenen Identität werden.
Infos: www.mfk.ch
Foto: zVg.
ensuite, Oktober 2013