Von Barbara Roelli — Wir sassen mal wieder beim Apéro, als jemand folgende Geschichte zum Besten gab. Bedingung war übrigens, dass in der Geschichte die Worte «Fahne», «Saisongemüse», «Nacktspaziergang», «Hampelmann» und «Schwärmerei» vorkommen.
Hier die Geschichte: Binsiger war bekannt in der mittelgrossen Schweizer Stadt. Der Wirt ist auf die Welle des fleischlosen Genusses aufgesprungen, als das vegetarische Restaurant «Hiltl» in der Weltstadt Zürich so richtig «en vogue» wurde. Binsiger schrieb sich also auf die Fahne, nur Saisongemüse zu verarbeiten. Randen, Wirz und Schwarzwurzel zur Winterzeit – Spargel, Kohlrabi und Artischocken im Frühling – und so weiter. Die Gäste liebten Binsigers unvergleichliche Tomaten-Tarte, die cremige Krautstiel-Lasagne, das Kräuter-Soufflée mit caramelisiertem Fenchel. Seine Wirtschaft «Zum grünen Gaumen» lief hervorragend. An den Wochenenden konnten sich Binsiger und sein Team vor lauter Reservationen kaum retten. Immer wieder mussten sie Anfragen für ein Hochzeits-Catering absagen, weil sie bereits eine 30-köpfige Konfirmationsgesellschaft zu verköstigen hatten. Man könnte sagen, dass Binsiger zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort war, und erst noch die richtige Geschäftsidee hatte. Ein solcher Glückspilz war Binsiger.
Doch dann, eines Nachts, hatte der Wirt des meistfrequentierten Restaurants der Stadt eine sonderbare Begegnung. Vorauszuschicken ist an dieser Stelle, dass Binsiger der Vereinigung der Nacktspazierer angehörte, die sich regelmässig nachts zum Spazieren traf – wie gesagt so, wie sie Gott geschaffen hatte. Da sich Binsiger schon vor seiner Zeit als Wirt gerne an Freikörperkultur(FKK)-Stränden aufgehalten hatte, bot ihm die Vereinigung der Nacktspazierer nun eine Alternative. Er konnte sich so auch nach seiner strengen Arbeit als Wirt beim Nacktsein erholen – die Spaziergänge starteten jeweils erst um 00.30 Uhr.
In dieser besagten Nacht also, der Nacht auf einen Donnerstag, der Vollmond leuchtete hell, entdeckte Binsiger die Frau. Sie lief vor ihm in der Gruppe. Als die Spazierenden eine Waldlichtung erreichten, erhaschten seine Augen die Haut der Frau, bleich und zart im Mondlicht schimmernd. Die weichen Rundungen der Po-Backen, das füllige Fleisch der Schenkel. Binsiger wurde starr. Nicht im sexuellen Sinne. Er wurde starr, weil er noch nie in seinem Leben eine solche Lust verspürt hatte, in Fleisch zu beissen. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen. Er schien nicht mehr Herr zu sein über seine Glieder. Seine Beine knickten bei jedem Schritt ein. Binsiger hatte das Gefühl, als habe die Frau da vorne die Schnur in der Hand und könne ihn tanzen lassen wie einen Hampelmann.
Dann war der Nacktspaziergang auch schon zu Ende, die Gruppe löste sich auf. Frauen und Männer verschwanden in der Dunkelheit, auch die Frau mit der mondzarten Haut. Binsiger taumelte benommen nach Hause. Er nahm das dicke Kochbuch aus dem Bücherregal, welches ihn durch seine Kochlehre begleitet und schon ziemlich Staub angesetzt hatte. Er schlug das Kapitel «Lamm» auf und blätterte die Seiten durch, bis er auf das Rezept «Milchlamm» stiess. Ob er es wagen sollte, in seinem vegetarischen Restaurant Fleisch anzubieten? Warum nicht. Er servierte das Milchlamm auf einem Waldpilz-Ragout und nannte es «kleine Schwärmerei».
Foto: zVg.
ensuite, Juni/Juli 2014